Weimerer Verhältnisse

Wolfram Weimer versteht sich als bürgerlicher Schöngeist. Er schätzt Goethe, den spanischen Stierkampf und vertritt konservative Werte. Nun soll er den Focus retten. Kann das gelingen?

journalist 04/2011

Goethe guckt grimmig, Nietzsche schaut schaurig und auch Immanuel Kant könnte mehr lächeln. Aber wie das so ist mit deutschen Intellektuellen: Man sah sie selten glücklich. Wolfram Weimer dagegen lächelt fast immer. Der Focus-Chefredakteur sitzt in seinem Münchner Büro, umringt von Geistesgrößen. Nietzsche und Kant stehen als Holzschnitte auf seinem Bücherregal. „Die Goethe-Büste war ein Geschenk meiner Frau“, sagt Weimer. Sie heiße Christiane, wie eine der Frauen Goethes, und stamme wie der Dichter aus Frankfurt am Main.

Während Weimer den Knoten seiner Krawatte richtet, fragt man sich, ob man beeindruckt sein muss. Ein schlanker Zwei-Meter-Mann im dunklen Nadelstreifenanzug. Helles Hemd, Manschettenknöpfe und gestickte Initialen am Ärmel. Wöllte Weimer einen Wettbewerb um den elegantesten Auftritt aller Chefredakteure gewinnen, er hätte Chancen. Aber er soll den Focus retten. Da sind die Aussichten schon schlechter.

Seit Juli leitet der 46-Jährige zusammen mit Uli Baur die Redaktion, die früher mit Titelgeschichten um Leser buhlte wie „Mehr essen, weniger wiegen“ oder „Nie wieder Brille!“ In den neunziger Jahren galt das Magazin mit seinen Nutzwert-Strecken und den bunten Infografiken als ernsthafte Konkurrenz zum Spiegel. Inzwischen verkaufen die Münchner jede Woche nur noch reichlich halb so viele Hefte wie die Konkurrenz. Etwa 550.000 waren es zuletzt. Unter Politikern und Journalisten in Berlin gilt der Focus als nicht besonders wichtig.

„Ich weiß, dass das hier eine Mammutaufgabe ist“, sagt Weimer. „Aber wir haben den Patienten bereits aus der Intensivstation geschoben.“ Die Einzelverkäufe im ersten Quartal lägen deutlich über denen des Vorjahres. Tatsächlich lief der Titel „Kohls Sohn bricht sein Schweigen“ gut. Die Nummer mit den „100 einflussreichsten Deutschen“ dagegen floppte. Am Besten verkaufte sich im ersten Quartal jene Januar-Ausgabe, in der die Bildungsthesen von Ursula Sarrazin vorgestellt wurden. Sie kostete nur einen Euro.

Wer solche Kampfpreise macht, denkt man ja, hat entweder zu viel Geld oder ist verzweifelt. „Wir wollten möglichst viele Menschen dazu bewegen, den Focus mal wieder in die Hand zu nehmen“, sagt Weimer. Das sei gelungen. Er lehnt in seinem grauen Sessel. Die Bücher im Regal hinter ihm sind nicht einfach hineingestellt sondern arrangiert. Es fallen die Biographien über Bismarck und Kleist ins Auge sowie ein dickes Sachbuch mit dem Titel „Die Epoche der Intellektuellen“.

Weimer gibt gern den Schöngeist, der darüber parlieren kann, warum er eher der Goethe- als der Schiller-Typ ist, eher zu Thomas Mann als zu Bertolt Brecht neigt und was ihm an Martin Walser gefällt. Passt so einer zum alten, etwas hausbackenen Focus? Seit seiner Ankunft in München kämpft Weimer in der Redaktion dafür, mehr Politik auf die Titelseiten zu bringen. Er hat einen Debatten-Teil eingeführt und setzte eine Kooperation mit dem britischen Economist durch. „Es geht mir um eine Akzentverschiebung“, sagt Weimer. „Wir formen aus einem Nutzwertmagazin ein Orientierungsmagazin.“

Doch die Redaktion sieht es mit gemischten Gefühlen. Auf den Fluren hört man, es gebe zwei Fraktionen. Die eine stütze Weimers Aufbruch, die andere trauere dem traditionellen Stil des Focus-Gründers Helmut Markwort nach und bange um die Stammleser. Markwort ist noch immer als Herausgeber und Kolumnist für sein Magazin tätig und schreibt jede Woche das „Tagebuch“. Er kann nicht loslassen. Wenn Markwort in die Redaktion kommt, parkt er seinen BMW sichtbar vorm Burda-Gebäude. Weimer sieht oft, wessen Erbe er angetreten hat. Psychologisch ist das vermutlich keine schöne Situation.

Mit Co-Chefredakteur Uli Baur hat er zudem einen Mann an die Seite gestellt bekommen, der als Markworts Ziehsohn gilt, und von dem es heißt, intern spiele er eine viel wichtigere Rolle, als man es von Außen wahrnehme. Die Chemie stimmt angeblich trotzdem. „Baur ist ein sehr konstruktiver Mensch, der die alten Stärken des Focus bewahrt“, sagt Weimer. Dieses Korrektiv sei ihm sehr wichtig. Tatsächlich kann man jede Woche am Kiosk eine Art Kompromiss kaufen. Wenn es ein politischer Titel ist, findet sich auf Seite 1 auch ein Hinweis auf eine Nutzwertgeschichte. Ist es ein Nutzwert-Titel wird vorn auch eine Politikgeschichte angekündigt.

Geboren wurde Wolfram Weimer 1964 im hessischen Gelnhausen als Sohn zweier Lehrer. Er verbringt seine Kindheit in Portugal, wo der Vater Deutsch und Religion unterrichtet. Sein Abitur macht er wieder in Hessen – als bester Absolvent seines Jahrgangs. Schon während des Studiums der Geschichte, Germanistik, Politik und Volkswirtschaftslehre schreibt Weimer für hessische Lokalblätter. Später verkauft er Börsenberichte an die FAZ. Die Zeitung stellt ihn mit 26 Jahren als Wirtschaftsredakteur ein und schickt ihn kurz vor seinem 30. Geburtstag als Korrespondent nach Spanien. Weimer ist dort auch für die Berichterstattung aus dem Maghreb zuständig.

„Ich mag Leute nicht, die behaupten, in Nordafrika könne keine Demokratie entstehen“, sagt Weimer. Er blickt auf seinen Büro-Fernseher, der während des gesamten Gesprächs mit leisem Ton läuft. N-TV zeigt Bilder aus Libyen, Tunesien und Ägypten. Ein bisschen erinnere ihn das an 1989, sagt der Chefredakteur. „Ich sehe die Despoten stürzen und freue mich.“

Wenige Minuten später wechselt das Programm zum Fußball und Weimer plaudert über seine drei Söhne. Er habe einen Club gegründet, in denen Väter gegen ihre Jungs kicken. Mit seinem Ältesten war er gestern in Frankfurt am Main beim Bundesligaspiel gegen Stuttgart. „Unsere Fan-Fahne haben wir gemeinsam gemalt.“

In diesem Moment ahnt man, warum selbst die ehemalige taz-Chefredakteurin Bascha Mika sagt: „Weimer ist ein sehr sympathischer Mensch.“ Er kann sehr kumpelhaft und sehr herzlich sein. Doch zugleich ist Weimer einer der konservativsten Schreiber des Landes, der die Folgen des Klimawandels infrage stellt, George W. Bush zu seinem Deutschlandbesuch eine Begrüßungsrede schrieb und Karl-Theodor zu Guttenberg Ende 2010 zum „Mann des Jahres“ ernannte. Ein Interview mit Thilo Sarrazin begann Weimer mit dem Satz: „Wie geht es Ihnen?“

Als Spanien-Korrespondent hat er häufig Stierkämpfe besucht. Weimer fasziniert die Atmosphäre in der Arena, dass die Zuschauer im Sonntagsanzug kommen und die Zeitungen ihre besten Feuilletonisten schicken. „Für die Spanier ist der Stierkampf ein religiöses Opferritual, bei dem sie die Vergänglichkeit spüren“, sagt Weimer. Bei einem gelungenen Kampf könne man für Momente etwas Heiliges empfinden. „Die Atmosphäre ist wie in einem Gottesdienst.“

Zu einem dieser Kämpfe begleitet ihn 1998 ein Freund aus Studientagen, der noch ein bisschen strebsamer, konservativer und ein paar Millimeter größer gewachsen ist als Weimer: Mathias Döpfner. Der Axel Springer Verlag hat Döpfner die Chefredaktion der Welt angeboten. Er soll die verlustreiche Tageszeitung von ihrem alten Muff befreien und sucht dafür einen Verbündeten.

Weimer wird Döpfners Stellvertreter. Gemeinsam verpassen sie der Welt das Image einer liberal-konservativen Großstadtzeitung. Sie frischen die Optik auf und glänzen mit Autoren, die man ihrem Blatt nicht zugetraut hätte: Die SPD-Kennerin Tissy Bruns übernimmt das Parlamentsbüro, der Liedermacher Wolf Biermann wird im November 2000 zum Chef-Kulturkorrespondenten ernannt. Als Döpfner in den Verlagsvorstand aufsteigt, übernimmt Weimer von ihm die Welt-Redaktionsleitung. Im Haus heißen sie da schon die „Twin-Towers“ und gelten als perfekt eingespieltes Doppel. Heute ist der Männerbund zerbrochen. Weimer und Döpfner reden kaum noch miteinander.

Die Ursachen dafür sind schwer zu ergründen. Fest steht, dass Weimer 2001 im Auftrag des Vorstands die Fusion der Welt mit der Berliner Morgenpost organisiert und Doppelchefredakteur beider Blätter wird. Er formt aus zwei Redaktionen eine, dutzende Mitarbeiter müssen gehen. Heute sagt Weimer, das rigorose Sparprogramm sei ihm zunehmend unangenehm gewesen. „Ich habe mich deshalb nach anderen Aufgaben umgesehen.“

Er lernt den Schweizer Verleger Michael Ringier kennen, der in dieser Zeit mit Springer über eine Fusion verhandelt. Im Herbst 2002 will sich Weimer auch mit einem Vertreter der FAZ treffen, wo seine Karriere einst begonnen hat. Doch der Termin platzt, weil ein Branchendienst schreibt, Weimer wolle in Frankfurt Chefredakteur werden und das FAZ-Herausgeber-Gremium ablösen. Es folgen beiderseitige Dementis sowie Weimers Abgang bei Springer. „Auf eigenen Wunsch“, wie es in der Pressemitteilung heißt. Unternehmensdiplomatie.

War Weimer gegenüber Döpfner illoyal und musste deshalb gehen, wie der Tagesspiegel schrieb? Wurden Intrigen gegen den Welt-Chef gesponnen? Zumindest häufen sich in den Monaten vor seiner Demission die Merkwürdigkeiten. Medienredakteure berichten, Weimer habe auch noch die Leitung der Welt am Sonntag übernehmen wollen. In einem Interview kündigt er eine Wahlempfehlung seiner Zeitung zur Bundestagswahl 2002 an, was der Verlag anschließend zurücknimmt. Tissy Bruns muss in einem Magazin lesen, der Chefredakteur wolle sie nach dieser Wahl als Parlamentskorrespondentin ablösen. Weimer bestreitet das später. Schließlich geht er wenige Monate vor ihr.

Heute kann oder will er sich an die Bruns-Geschichte nicht mehr erinnern. Er redet lieber über Qualität im Journalismus und wie sehr es ihn ärgere, dass die Verlage in den vergangenen Jahren ihr Kerngeschäft vernachlässigt hätten. Er versucht, von dem Lebensabschnitt abzulenken, dessen Ende man durchaus als Niederlage deuten kann. Doch Weimer gehört zu den Männern, die ungern über Niederlagen reden. Werden sie doch gedemütigt, interpretieren sie es um. Leistung, Freiheit und Mut sind Begriffe, die er gern verwendet.

Er findet schnell eine neue Aufgabe. Weimer kann den Ringier-Verlag, dessen Fusionspläne mit Springer inzwischen geplatzt sind, für ein kleines Debatten-Magazin begeistern. „Für einen gedruckten politischen Salon“, wie er es nennt. Die Gründungsredaktion seiner Zeitschrift Cicero trifft sich 2003 aber nicht in der Hauptstadt sondern in Potsdam – unweit der Villa von Mathias Döpfner. Es wirkt, als sage Weimer zu seinem ehemaligen Kumpel: „Ätsch! Ich kann auch ohne Dich.“

Er engagiert gute Autoren – auch Querdenker, die politisch anders ticken, als er selbst. Für die Titelseite der ersten Ausgabe malt der Kunstprofessor Jörg Immendorff ein Porträt von Gerhard Schröder. Jim Rakete fotografiert für das Heft, das nicht nur unter der bürgerlichen Elite viel Aufmerksamkeit findet. Trotzdem bleiben mehrere Gründungsmitglieder nicht lange.

Auch Peter Littger verlässt die Redaktion, weil ihm Cicero zu oberflächlich bleibt. „Weimers Heft war nur ein simulierter Salon“, kritisiert der heutige Medienberater, „angeblich ein deutscher New Yorker, in Wahrheit ein Reader’s Digest“. Dem Chefredakteur sei es besonders wichtig gewesen, prominente Köpfe im Blatt zu haben. Was sie schreiben, habe ihn weniger interessiert. Und anstatt die Prominenten kritisch zu porträtieren, habe man sich oft mit gefälligen Interviews begnügt. Littger glaubt, dass Weimer nicht primär an einem herausragenden, kritischen und neuartigen Journalismus interessiert war, sondern daran, erfolgreich für sich und langfristig vielleicht auch für den Verlag ein Geschäftsmodell aufzubauen. „Von der Qualität eines deutschen New Yorkers waren wir weit entfernt – nicht in unserer Grundstimmung, aber im Ergebnis.“

Trotzdem macht Cicero Schlagzeilen. Im September 2005 durchsuchen Polizisten die Büros wegen eines Artikels des Autors Bruno Schirra über den irakischen Terroristen az-Zarqawi. Schirra hat aus Geheimdokumenten des BKA zitiert, die Behörden wittern Landesverrat. Gegen die Durchsuchung und Beschlagnahmung von Unterlagen reicht die Redaktion Klage ein und bekommt vor dem Bundesverfassungsgericht Recht. Das „Cicero-Urteil“ macht Weimers Heft so richtig bekannt.

Wie so viele Chefredakteure versteckt auch Weimer seine Eitelkeit nicht. Beim Gespräch in München fährt er sich derartig oft mit beiden Händen durchs Haar, dass man ihm glatt eine Rolle in einem Werbefilm für Koffein-Shampoo anbieten möchte. Vor sechs Jahren wollte er sogar Professor werden. Er bewarb sich an der FU Berlin um eine Stelle für Kommunikations- und Medienpraxis und stellte sich ganz unbescheiden als Chefredakteur des größten politischen Magazins aus der Hauptstadt vor, in die Cicero inzwischen gezogen war. „Ich habe eine große pädagogische Lust verspürt“, sagt Weimer. Schon sein Großvater habe unterrichtet. Und sein Vater Alois – ein Studiendirektor – habe immer ein wenig damit gehadert, dass der Sohn „nur“ Journalist geworden sei. Gemeinsam schrieben sie mehrere Bücher: „Mit Platon zum Profit“, „Die Kunst der Karriere“ oder „Mit Goethe zum Gewinn“. Eine Alliteration für den Titel fand sich fast immer.

„Ich mag solche Wortspiele“, sagt Weimer und blickt ein paar Sekunden aus dem Fenster. „Aber noch mehr beeindruckt mich die Kraft der Assonanz.“ Der Spruch „Haribo macht Kinder froh“ habe ihn wegen seiner Vokalfolge sehr fasziniert. Bei der Wahl des Titels Cicero ließ er sich davon leiten. „In der Marktforschung kam Cicero nur durchschnittlich an, aber der Name war wegen seines Klangs am Einprägsamsten.“

Focus muss sich niemand mehr einprägen. Den Namen kennt schon jeder, was nicht nur ein Vorteil ist, denn die Marke hat keinen exzellenten Klang mehr. Weimer will das Magazin dennoch wieder zu einer bedeutenden politischen Stimme machen, zu einer Konkurrenz zum Spiegel. „Die Größenunterschiede schrecken mich nicht“, sagt er. „Das Angreifermoment hat den Focus immer sympathisch gemacht.“ Er sehe Indizien dafür, dass der Spiegel politisch wieder nach links rücke. Das gäbe einem bürgerlichen Titel mehr Raum.

Doch die Frage ist, wie er diesen Raum füllen will. Der Spiegel hat deutlich bessere Autoren und auch mehr Rechercheure. Der Focus musste zuletzt eine kräftige Personalkürzung verkraften. Kurz vor Weimers Amtsübernahme hatte Burda beschlossen, 50 Stellen in der Redaktion zu streichen. Außerdem erhöhte der Verlag den Heftpreis. Das hat Weimer den Start nicht leichter gemacht. Aber der Neue hält es ja mit Goethe. Von ihm stammt der Satz: „Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen.“

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01. April 2011 von ralfgeissler
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