Diagnose: Workaholic

Formulieren Sie schon beim Frühstück Textanfänge? Denken Sie selbst im Urlaub über Themen nach? Sind Ihre engsten Freunde zugleich Ihre Kollegen? Dann sind Sie womöglich süchtig nach Arbeit. Nach Ansicht von Psychologen brauchen Workaholics Behandlung. Unter Journalisten sind Arbeitssüchtige besonders häufig.

Journalist,  Mai 2012

Der erste Satz für diese Geschichte entstand an einem Sonntag. Es war schon spät am Abend. Das spricht vermutlich gegen den Autor, aber für sein Thema. Wer um diese Zeit noch freiwillig am Computer sitzt, bekommt es entweder gut bezahlt oder ist Journalist. Und damit einer von denen, die schwer loslassen können.

Journalisten sind Pioniere: Immer bereit. Sie entdecken selbst im Urlaub Themen, recherchieren auch an Feiertagen, moderieren nächtliche Radiosendungen und grübeln schon beim Frühstück darüber nach, ob sich die Randnotiz in der Lokalzeitung nicht zu einer prächtigen Reportage ausbauen ließe. Journalisten können ihren Beruf gar nicht mit dem Leben verwechseln, weil sie beides für dasselbe halten. Die Frage eines Chefredakteurs, wann ein Reporter Feierabend hat, lässt nur eine Antwort zu: „Nie.“

Doch dieses Berufsethos kann krank machen, sagen Psychologen. Sie warnen vor einem Abgleiten in die Arbeitssucht. Was ein wenig nach einem Modeleiden klingt, beschäftigt Wissenschaftler und Therapeuten seit Jahren. Von der Arbeitssucht ist es nicht weit zu Burnout, Herzinfarkt oder Schlaganfall. Im Japanischen gibt es sogar ein Wort für den Tod durch Arbeit: Karoshi.

Die Dortmunder Journalistik-Absolventin Linda Matthey hat sich jetzt als eine der ersten wissenschaftlich mit Arbeitssucht im Journalismus beschäftigt. „Wenn der Kopf nie Redaktionsschluss hat“ steht im Untertitel ihrer Studie. Matthey ließ vergangenes Jahr insgesamt 231 Journalisten einen Fragebogen ausfüllen. „Die Ergebnisse waren eindeutig“, sagt sie. „Journalisten haben überdurchschnittlich oft ein süchtiges Verhältnis zu ihrer Arbeit.“ Sie rechnete jeden Fünften ihres Panels zu den Betroffenen. In der Gesamtbevölkerung ist es nach anderen Studien nur etwa jeder Zehnte.

Die Frage, wann berufliches Engagement beim Einzelnen in krankhaftes Verhalten umschlägt, ist gar nicht so leicht zu beantworten. Die Arbeitsdauer sei kein Gradmesser, höchstens ein Hinweis, sagt Matthey. „Es gibt Süchtige, die arbeiten offiziell nur 20 Stunden in der Woche.“ Und trotzdem würden ihre Gedanken ständig um den Job kreisen.

Der Bonner Organisationspsychologe Stefan Poppelreuter sagt: „Chronisch Arbeitssüchtige sind der Arbeit völlig verfallen. Ihr gesamtes Denken und Handeln, ihr gesamter Vorstellungsraum bezieht sich auf sie.“ Betroffene hätten in ihrem Freundeskreis fast nur noch Kollegen. „Ihre soziale Wirklichkeit organisieren sie um die Arbeit herum. Sie sind nicht mehr in der Lage, gedanklich abzuschalten.“

Maren Warnecke kennt dieses Gefühl. „Ich habe lange geglaubt, wenn ich nicht arbeite, bleibt die Welt stehen“, sagt die 37-Jährige. Die Hamburger Journalistin hat acht Jahre lang bis zu 70 Stunden in der Woche gearbeitet und landete schließlich in einer Klinik für psychosomatische Krankheiten. Dabei hatte ihr Berufsleben mit Leidenschaft begonnen.

Nach ihrem Studium fing Warnecke bei der Altmarkzeitung in Sachsen-Anhalt als Redakteurin an. Sie plante die Seiten, recherchierte und schrieb mit Enthusiasmus. Werktags, sonntags, feiertags. Oft bis spät in den Abend, denn der Personalstamm war klein. Nach 5 Jahren versetzte der Verlag C. Beckers sie ins Haupthaus nach Uelzen zur Allgemeinen Zeitung. Ein Karrieresprung. „Dort wollte ich mich beweisen, habe viele Projekte übernommen“, sagt Warnecke. Sie fragte ihre Chefs nach einer bereits in Aussicht gestellten Gehaltserhöhung und erhielt als Antwort, dafür müsse sie noch mehr leisten.

Für Privates blieb bald kaum noch Zeit. Um ihre sozialen Kontakte nicht zu verlieren, versuchte Warnecke, in ihren freien Stunden so viele Freunde wie möglich zu treffen. „So habe ich mir weiteren Druck aufgebaut“, sagt sie. „Ich schlief fortan schlecht, bekam Magenbeschweren, reagierte dünnhäutig auf Kritik – und habe mich noch stärker engagiert.“ Sie wechselte im Verlag erneut die Redaktion. Im August 2008 diagnostizierten Ärzte bei ihr Burnout. „Im Nachhinein kommt mir die Zeit bis dahin völlig irre vor“, sagt Warnecke. Zumal die finanzielle Entlohnung gemessen am Aufwand lächerlich gewesen sei. Im dritten Berufsjahr erhielt sie nicht einmal 2.000 Euro Brutto.

Oft sind es junge Journalisten, die von der Arbeitssucht gefangen werden. Das zeigt auch die Studie von Linda Matthey. Sie fand außerdem bestätigt: Selbständige sind viel häufiger betroffen als Festangestellte. Die höchsten Arbeitssuchtwerte haben aber Kollegen, die ihr Geld in einer Mischform aus pauschalen Tagen und völlig freier journalistischer Tätigkeit verdienen. „Bei ihnen ist der Aufwand vermutlich besonders groß, die unterschiedlichen Aufgaben zu koordinieren“, sagt Matthey.

Laut einer Umfrage des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV) arbeiten Freiberufler im Durchschnitt 44,1 Stunden je Woche, wobei die Arbeitsdauer im Osten Deutschlands höher liegt als im Westen. In Sachsen-Anhalt kommen die Freien nach eigenen Angaben sogar auf 51 Stunden. Wie entspannt klingt dagegen die tarifvertraglich vereinbarte Wochenarbeitszeit für festangestellte Zeitungsredakteure: 36,5 Stunden.

Doch die Zahl ist theoretischer Natur. „Wir wissen, dass in den Redaktionen mehr gearbeitet wird als im Manteltarifvertrag vereinbart wurde“, sagt DJV-Sprecher Hendrik Zörner. Immer wieder schlagen Kollegen vor, die Arbeitszeit in den Tarifverträgen an die Realität anzupassen, dann aber auch darauf zu drängen, dass sie eingehalten wird. Zörner kann das Ansinnen nachvollziehen, sieht aber wenig Chancen für eine Umsetzung. „In vielen Unternehmen ist die Stellenzahl an die Wochenarbeitszeit gekoppelt. Würden wir auf 40 Stunden hochgehen, dürfte das Jobs kosten und die Belastung der Angestellten weiter erhöhen.“

Die Vermutung liegt nahe, dass es in den stressgeplagten Nachrichtenagenturen besonders viele Workaholics gibt. Doch das erwies sich in Mattheys Studie als falsch. „Die meisten Betroffenen finden sich im Printbereich, beim Radio und beim Fernsehen“, sagt sie und erklärt sich das mit den unterschiedlichen Arbeitsabläufen. „Nachrichtenagenturen sind organisatorisch darauf ausgelegt, schnell auf unerwartete Ereignisse zu reagieren. Das gleicht Stress und Aktualitätsdruck womöglich aus.“ Auch in Online-Redaktionen fand Matthey überraschend wenig Arbeitssüchtige. „Hier könnte es daran liegen, dass die Mitarbeiter vor allem mit dem Redigieren fremder Texte beschäftigt sind.“ Abends lassen sie ihren Stress im Büro. Freie Autoren hingegen nehmen ihn mit nach Hause.

Für ihre wissenschaftliche Arbeit wollte Matthey Betroffene ursprünglich ausführlich interviewen. Doch es fand sich kein einziger Journalist, der dazu bereit war. Heute wundert sie sich darüber nicht mehr. „Als Workaholic lassen sich viele gern befragen“, sagt sie. „Das klingt fleißig, modern, engagiert.“ Aber arbeitssüchtig höre sich schon stark nach gestörtem Ego an, nach freudlosem Leben und Suchtklinik. Wer will dort schon enden? Doch beide Begriffe meinen das Gleiche.

Den Begriff Workaholic prägte der US-Amerikaner Wayne Oates, weil er im Verhalten von Arbeitssüchtigen und Alkoholabhängigen Gemeinsamkeiten erkannte. Sein Buch „Confessions of a Workaholic“ aus dem Jahr 1971 zeigte auf der Titelseite eine Schnapsflasche. In neun Kapiteln warnte Oates vor exzessiver Geschäftigkeit. Er wusste genau, worüber er schrieb, denn er kannte selbst keinen Feierabend. Als Psychologe und Religionslehrer veröffentlichte er fast 60 Fachbücher.

Auch der deutsche Psychotherapeut Gerhard Mentzel sah starke Ähnlichkeiten zwischen der Sucht nach Arbeit und der Sucht nach Alkohol. 1979 formulierte er einen psychologischen Test für Alkoholiker einfach um, indem er die Begriffe „Alkohol“ und „Trinken“ durch „Arbeit“ ersetzte. Wer 10 der insgesamt 25 Fragen von „Arbeiten Sie heimlich?“ bis hin zu „Gebrauchen Sie Ausreden, warum Sie arbeiten?“ mit Ja beantwortete, war nach Mentzels Meinung süchtig. Zu seinen Patienten gehörten vor allem Berufstätige mit Berufung: Ärzte und Politiker.

Matthias Matussek hat nie einen Fragebogen für Arbeitssüchtige ausgefüllt. Dennoch sagt der prominente Spiegel-Autor über sich: „Ich habe eine Phase mit Suchtverhalten hinter mir.“ Von 2005 an leitete er das Kulturressort. Sechzig Arbeitsstunden je Woche waren keine Seltenheit. „Ich konnte schlecht delegieren, habe bis zum Anschlag gearbeitet. Ich war überzeugt, dass ich es allein am Besten kann“, sagt Matussek. Heute nennt er dieses Verhalten einen Fehler.

Wer sich verausgabt, gerät schnell in einen Rausch. „Als Ressortleiter drehst Du mit am großen Rad“, sagt Matussek. „Dass der Körper nicht mehr kann, merkst Du gar nicht, weil er ständig Adrenalin auspumpt.“ Nach 3 Jahren hat die Chefredaktion ihn als Ressortleiter abgesetzt. Matussek fühlte sich ausgebremst und ausgebrannt. Sein Rücken schmerzte, er kroch gebeugt die Stufen zur Redaktion hinauf. In einer Kur lernte er wieder den aufrechten Gang. Der Arzt sagte, achtzig Prozent aller Rückenleiden seien psychisch bedingt.

Es ist der Erfolg, an dem sich viele Arbeitssüchtige berauschen. Die Titelgeschichte, die eigene Stimme im Radio, das Gesicht im Fernsehen. Der Psychotherapeut Peter Berger hat Betroffene in unterschiedliche Typen eingeteilt. Es gibt den kontrolliert-zwanghaften Buchhalter, den wetteifernd rivalisierenden Workaholic und den abhängig-depressiven Arbeitssüchtigen. „Journalisten sind oft egozentrisch-narzistisch geprägte Workaholics“, sagt Berger. „Sie suchen Bestätigung in der Öffentlichkeit, bewerten ihre eigenen Leistungen höher als die der anderen und reagieren empfindlich auf Kritik.“

Berger behandelt an der Hardtwaldklinik II im hessischen Bad Zwesten Arbeitssüchtige aus allen Branchen. Journalisten gehören zu den schwierigen Patienten. „Wenn man denen als Ausgleich Waldläufe empfiehlt, nehmen sie ein Pulsmessgerät mit und schreiben anschließend eine Geschichte übers Joggen“, sagt Berger. Mit Loslassen habe das nichts zu tun.

Doch ist es wirklich nur das alte Ego, das einen zum Workaholic macht? „Nein“, sagt Berger. „Es gibt institutionelle Bedingungen, die Arbeitssucht begünstigen.“ Dazu gehörten prekäre Arbeitsverhältnisse, schwankende Arbeitszeiten und ein hoher Kreativitätsdruck. Anders ausgedrückt: Die Medienbranche bietet für die Entwicklung einer Arbeitssucht ideale Voraussetzungen.

Das zeigt auch die Studie von Linda Matthey: Je mehr Druck Einzelne empfinden – durch Kollegen, bei der Themensuche oder wegen eines engen Zeitplans – umso stärker tendieren sie zu arbeitssüchtigem Verhalten. Viele, die in ihrer Studie eindeutig der Workaholic-Gruppe zuzuordnen waren, spürten eine große berufliche Unsicherheit.

Andreas Peter hat viele Jahre als Hörfunkkorrespondent in Berlin gearbeitet, mit einem Pauschalistenvertrag. 2008 zeichnete sich ab, dass seine Tätigkeit in der Hauptstadt enden würde. Trotzdem verbrachte er weiterhin viele Abende im Büro, saß dort auch am Wochenende. „Von vielen Berichten habe ich drei Versionen gemacht, weil ich perfekt sein wollte“, sagt Peter. Dennoch schlichen sich immer häufiger Fehler ein. Freunde warnten ihn, er solle weniger arbeiten. Als sein Vertrag am 31. Dezember 2008 endete, textete Peter noch am Silvesterabend Beiträge. „Ich bin nach Hause gegangen, ohne eine Party zu besuchen, und habe mir am nächsten Morgen die Seele aus dem Leib gekotzt“, sagt er. Mehrere Wochen musste er sich in einer Klinik psychotherapeutisch behandeln lassen.

Der Druck, sich zu verausgaben, wächst mit der zunehmend unsicher werdenden Beschäftigungssituation im Journalismus. Zudem wird das Abschalten schwieriger. Wer heute im Nachrichtengeschäft tätig ist, muss permanent auf dem Laufenden bleiben. Die Flut an Meldungen ist hoch wie nie. Zu den klassischen Medien und Online-Portalen kommen soziale Netzwerke, die permanent beobachtet werden wollen. Wer im Internet veröffentlicht, sollte die Leserkommentare verfolgen und darauf reagieren. Ohne Facebook-Account gilt man voll als Achtziger. Wer als Online-Journalist nicht twittert, wird belächelt.

Noch vor 20 Jahren verließen Redakteure am Abend ihr Büro und waren bis zum nächsten Morgen bestenfalls zu Hause auf dem Festnetz erreichbar. Dort anzurufen, wagten Chefs nur in Notfällen. Der journalistische Berufsethos war trotzdem nicht viel anders als heute: neugierig bleiben. Inspiration für Themen fanden sich schon immer in der Freizeit. Nur wurde das Ideensammeln früher nicht von viertelstündlich eintreffenden Kurznachrichten unterbrochen. Heute erreichen uns dienstliche E-Mails dank Smartphone selbst in der Badewanne. Dass das Handy auch im Urlaub angeschaltet bleibt, gilt als selbstverständlich. Der Grat zwischen Selbstverwirklichung und seelischer Erschöpfung wird immer schmaler.

Indra Eilers lebt nach dem Motto: Zwischendurch eine andere Tätigkeit ist auch eine Form der Pause. Ihr Tag beginnt um 4 Uhr. Sie steht auf, schlurft zum Computer und beginnt, Texte zu schreiben. Punkt 6:40 Uhr weckt sie ihre drei Söhne. Anziehen, Frühstücken, zum Kindergarten und zur Schule fahren. Anschließend recherchiert und textet sie weiter. Mittags kocht die 37-Jährige für ihre Familie, abends erledigt sie die Hausarbeit. Wenn die Kinder im Bett sind, setzt sie sich wieder an den Schreibtisch, bis ihr gegen 23 Uhr die Augen zufallen. „Manchmal sehe ich vom Bürofenster aus, wie ein Auto langsam auf unser Haus zufährt“, sagt sie. „Dann denke ich: Hoffentlich will der nicht zu mir, Kaffee trinken und nett schnacken. Ich habe doch gar keine Zeit zum Schnacken.“

2010 hatte Eilers eine Schreibblockade. Sie saß vor ihrem Computer und es fiel ihr nichts mehr ein. Seitdem macht sie wieder Urlaub: einmal im Jahr ein verlängertes Wochenende, allein. „Mehr ist zeitlich nicht drin“, sagt sie. Ist sie mit diesem Leben glücklich? „Ich bin gut zufrieden“, antwortet Eilers. „Auch wenn ich wie ein Süchtige arbeite, macht es mir doch Spaß.“

Damit ist sie eine Ausnahme. Denn kurioserweise macht Workaholics ihr Job weniger Freude als Kollegen mit normalem Arbeitsverhalten. Das belegen mehrere Studien. Und nicht nur das: Arbeitssüchtige nehmen auch anderen den Spaß, weil sie ihnen permanent ein schlechtes Gewissen bereiten. Wer täglich erlebt, dass der Büronachbar als erster kommt und als letzter geht, spürt wachsenden Druck, ebenfalls länger zu bleiben.

Dabei steigt mit der Arbeitsdauer nicht automatisch die Produktivität. Im Gegenteil. Arbeitssüchtige seien oft schlecht organisiert, würden sich in ihren Aufgabenwust verzetteln, sagt Studienautorin Matthey. „Sie sind kein Gewinn für ein Unternehmen.“

Zu diesem Ergebnis ist man auch in der Führungsetage von Facebook gekommen. Viele Monate achtete Geschäftsführerin Sheryl Sandberg darauf, dass sie möglichst spät noch E-Mails verschickt, und es alle Kollegen mitbekommen. Im April brach sie mit diesem Ritual und teilte ihren Mitarbeitern per Videobotschaft mit: „Ich verlasse das Büro jetzt jeden Tag um 17:30 Uhr, um mit meinen Kindern Abendbrot zu essen.“ Sie riet den Kollegen, es ihr gleich zu tun.

Sich aus einer chronischen Arbeitssucht zu befreien, gilt als schwer. „Es ist ähnlich wie bei der Esssucht“, sagt Psychotherapeut Berger. „Sie können nicht vollständig aufhören mit Essen und Sie können nicht für immer aufhören mit Arbeiten.“ Viele Betroffene suchten ein Leben lang das richtige Maß. Ein Alkoholiker habe es in dieser Hinsicht leichter. Der könne nach einer Kur komplett abstinent leben.

Aber wie kann Prävention in einem Beruf aussehen, in dem sich Dienstliches und Privates noch nie eindeutig trennen ließen?

Der Journalist Hajo Schumacher hat vor einem Jahr sein Smartphone abgeschafft. „Dieser permanente Nachrichtenstrom in Echtzeit hat mich fertig gemacht“, sagt Schumacher. Er ertappte sich oft dabei, schon beim Frühstück im Internet zu surfen. Jede Stunde hatte er eine neue Kommentaridee, die am Abend überholt war. „Jetzt telefoniere ich wieder mit meinem alten Nokia-Knochen“, sagt Schumacher. „Wenn etwas wichtig ist, bekomme ich das trotzdem mit.“ Er trauert lediglich der Möglichkeit nach, unterwegs Bundesligaergebnisse abzurufen. „Unterm Strich überwiegen für mich die Vorteile“, sagt Schumacher. Mit der Abschaffung des Smartphones sei seine Panik, etwas zu verpassen, gesunken statt gestiegen. „Es gibt ein Leben nach ,Always On’“.

Das sieht auch Carola Kleinschmidt so. Sie hat an einem Buch mitgeschrieben: „Bevor der Job krank macht.“ Ihren Journalistenkollegen rät sie, häufiger einen Gang herunter zu schalten – insbesondere dann, wenn die Bezahlung schlecht ist. „Sie müssen nicht für jede Geschichte zehn Gesprächspartner haben, wenn Sie am Ende ohnehin nur drei zitieren wollen.“ Vor jeder Recherche sollte eine Abwägung stehen: Mit wem will ich wirklich reden? Liegt mir das Thema so sehr am Herzen, dass ich mehr Zeit investieren sollte als nötig? „Vergessen Sie die Idee, je mehr ich arbeite, desto besser werde ich“, sagt Kleinschmidt. Die Chance, als Edelfeder entdeckt zu werden, steige damit jedenfalls nicht.

Die Kölner Psychologin und Journalistin Inga Rapp sagt: „Schaffen Sie sich Punkte zum Innehalten.“ Freiberufler seien ja ihr eigener Chef. „Aber ein Chef hat nicht nur die Aufgabe zu motivieren, sondern auch eine Fürsorgepflicht.“ Kreativität brauche Ruhe. Wer das Abschalten üben will, kann bei Rapp spezielle Journalistenseminare zur Burnout-Prävention besuchen. Dort geht es auch um den Umgang mit Existenzängsten und sinkenden Honoraren. „Zu niedrige Bezahlung ist mangelnde Wertschätzung im wörtlichen Sinne“, kritisiert Rapp die Unternehmen. „Der Mensch wird an zu vielen Stellen nicht mehr als Mensch gesehen. Ein Begriff wie ‚Human Ressources‘ zum Beispiel klingt auch wie ‚Menschenmaterial‘.“

Wer wegen Stresssymptomen, Burnout oder Arbeitssucht in Behandlung war, kehrt nur selten wieder zu seinem alten Arbeitgeber zurück. Der Hörfunkjournalist Andreas Peter ist heute in der Pressestelle der Universität Potsdam beschäftigt. Die Zeitungsredakteurin Maren Warnecke fand einen Arbeitgeber, der auf soziale Belange achtet: Sie schreibt für eine norddeutsche Kirchenzeitung. Spiegel-Autor Matthias Matussek geht zum Sport, wenn in seiner Redaktion die Konferenz beginnt. Er schreibt viel von zu Hause aus. „Früher hing mein Wohlbefinden davon ab, ob ich jede Woche eine große Geschichte im Spiegel hatte“, sagt Matussek. „Aber das legt sich, wenn man auf die Sechzig zugeht.“

Journalisten und Sucht – das war schon immer ein Thema. Früher gab es keine Redaktion, in der nicht mindestens einer Kette rauchte. Vielen Autoren wurde ein Alkoholproblem nachgesagt. Heute heißt die Sucht der Zeit Arbeit. „Dem Menschen ist ein Hang zum Exzess zu eigen“, sagt der Bonner Organisationspsychologe Poppelreuter. Aber man kann aussteigen. Für ein paar Stunden. Der letzte Satz für diese Geschichte entstand an einem Donnerstag. Es war 17:33 Uhr, als der Autor beschloss: Jetzt ist Feierabend.

 

Über ralfgeissler

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01. Mai 2012 von ralfgeissler
Kategorien: Gesundheit, Medien | Schreibe einen Kommentar

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