Weltensammlerin

Carolin Emcke war 22 Jahre alt, als die RAF ihren Patenonkel Alfred Herrhausen ermordete. In einem Essay fordert sie: Lasst die Täter laufen, wenn sie uns ihre Geschichte erzählen.

journalist 08/2008

Und dann sah sie plötzlich den Wagen. Einen gesprengten, verkohlten Mercedes, der quer über der Straße in Bad Homburg lag. Rundherum standen Schaulustige, Polizisten und Beamte des BKA. Aber keiner schien sich für die junge Frau zu interessieren, die zwischen Parkhaus und Taunus-Therme wortlos aus einem Taxi gestiegen war und nun auf das zerfetzte Auto zulief.

Carolin Emcke weiß selbst nicht mehr, wie sie an jenem 30. November 1989 nach Bad Homburg gelangt ist. Sie erinnert sich nur noch an das Auto, das quer auf der Straße lag. „Unnatürlich wie ein verrenktes Gelenk, das vom Leib absteht.“ Wenige Stunden zuvor war auf dem Rücksitz ihr Patenonkel verblutet. Der Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen. Eines der letzten Opfer der RAF, ermordet durch eine auf einem Fahrradgepäckträger versteckte Bombe. Emcke kannte Herrhausen seit ihrer Kindheit. Ein väterlicher Freund, mit dem sie als Teenagerin stundenlang über Politik diskutieren konnte.

Mehr als 18 Jahre hat sie – die Journalistin – nicht die Kraft gefunden, darüber zu schreiben. Nur einmal, in einer Reportage aus dem Libanon, erwähnt sie im Jahr 2000 beiläufig, dass sie einen guten Freund bei einen Anschlag verloren habe.

Jetzt hat Emcke die bruchstückhafte Erinnerung in einem Essay verarbeitet. Es heißt „Stumme Gewalt – Nachdenken über die RAF“. Im September wird Emcke dafür mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Ausgerechnet sie, eine Hinterbliebene, fordert in dem Text Freiheit für die Attentäter. Emcke stellt nur eine Bedingung: Reden müssen sie. Öffentlich!

Es ist später Vormittag. Carolin Emcke sitzt im Café Luzia in Berlin-Kreuzberg. Blaue Jeans, schwarzes T-Shirt, ein braunes Lederbändchen am linken Handgelenk. Von draußen lärmt die Straße. „Wer nur an Rache und Sühne interessiert ist, wird die Wahrheit nie erfahren“, sagt sie und streift ihre halblangen schwarzen Haare nach hinten. „Die Bundesanwaltschaft hat die letzten RAF-Morde bis heute nicht aufklären können, und sie wird sie vermutlich auch nicht mehr aufklären. Wenn wir den Tätern Straffreiheit versprechen, ist das unsere einzige Chance, die Wahrheit zu erfahren.“

Die Sirene eines vorbeifahrenden Streifenwagens verschluckt fast ihre Worte. Emcke scheint das gar nicht zu merken. Sie spricht über ihr Lebensthema: Gewalt, Traumatisierung, der Umgang mit Tätern und Opfern. Jahre nach dem Attentat hat sie bei Jürgen Habermas ihre Magisterarbeit über das Recht auf Widerstand geschrieben. „Ich habe nur Autoren diskutiert, die Widerstand und zivilen Ungehorsam legitimieren“, sagt sie. „Das hatte ich mir geschworen. Dass es den Mördern niemals gelingen sollte, mich zu einer anderen, einer weniger offenen, weniger liberalen Person zu machen.“

Trotzdem blieben die Fragen. Wie ist die Entscheidung gefällt worden, ihren Patenonkel zu töten? Wird da abgestimmt? Gab es alternative Kandidaten? Woran denkt jemand, der TNT für eine Bombe präpariert? Das Schweigen der Täter belastet sie bis heute. Emcke weiß, dass die Antworten weh tun werden. Und sie weiß, dass Kritiker ihr Realitätsferne vorwerfen. Zigfach ist ihr in den vergangenen Wochen gesagt worden, niemals werde der Bundespräsident eine Amnestie gewähren, nur damit die Mörder der RAF mit der Wahrheit herausrücken. Das sei völlig utopisch.

Emcke sieht nachdenklich aus. Sie hat die Beine übereinander geschlagen, nestelt an ihrem linken Hosensaum und fragt: „Wann ist Utopie eigentlich zum Schimpfwort geworden? Wir brauchen Utopien. Politik wird immer im Vorgriff auf etwas gemacht, das sein soll. Und Gesetze und Rechtsinterpretationen sind ja dynamisch und entwickeln sich historisch weiter. Warum soll das also nicht möglich sein: Freiheit gegen Wahrheit.“

Schon zum Zeitpunkt des Attentats hat Emcke nebenbei als Journalistin gearbeitet. Sie machte Fernsehfilme übers Robbensterben in Schleswig-Holstein oder Gruftis in Bochum. Seit ihrer Promotion in Philosophie berichtet Emcke fast nur noch aus dem Ausland. Zuerst acht Jahre für den Spiegel. Seit einem Jahr als freie Reporterin vor allem für die Zeit. Sie lag im Bombenhagel der US-Luftwaffe im Irak, besuchte die billigen Bordelle in Bukarest, berichtete von den Kämpfen in Gaza und aus den Jeans-Fabriken in Nicaragua, in denen die Arbeiterinnen für 20 Cent je Stunde Hosen für den Westen nähen.

Carolin Emcke fährt dorthin, wo andere nur noch weg wollen. Eine Nomadin, eine Berufsreisende. Eine, die von sich sagt, es sei für sie schwerer, nach Hause zu kommen, als von dort los zu fliegen. Auf ihren Reportage-Reisen arbeitet sie nie mit professionellen Kontaktvermittlern zusammen. Sie bittet Fremde um Rat oder einen Tee. Und sie freut sich, wenn jemand sie aufnimmt wie eine Rumtreiberin, die es zu Hause nicht mehr ausgehalten hat. Ein bisschen erinnert ihr Vorgehen an Ilija Trojanows Romanfigur Richard Burton – den „Weltensammler“, der sich fremden Kulturen so sehr anpasst, dass er möglichst viel über die Menschen dort erfährt. Auch Emckes Geschichten handeln von ganz einfachen Menschen.

Ihre größte Stärke ist nicht das Beschreiben sondern das Reflektieren einer Situation. In Rumänien bot man ihr mal ein Kind an. Emcke stand im Park nahe des Bukarester Bahnhofs. Ihr Blick schweifte kurz über einen dreijährigen Roma-Jungen, als seine Mutter auf sie zukam, um ihr das Geschäft vorzuschlagen: Zehn Dollar. Emcke schüttelte den Kopf und fragte sich, wie schauen, damit dieses Kind mit seinen aufgeschürften Knien und dem langen Ärmel in der Hand nicht glaubte, es gefalle ihr nicht.

Später kommt ihr die eigene Empörung über das Kaufangebot völlig verlogen vor. „Während es zunächst ethisch unmöglich erschien, ein Kind zu kaufen, zerschellte diese Erstwelt-Moral an den Erfahrungen, die ich nach nur sieben Tagen in der Kanalisation, in den Bordellen, in den Polizeistationen von Bukarest machen musste“, schreibt Emcke in ihrem Text. „Für zehn Dollar hätte ich das Kind besser schützen können vor dem, was ihm nun vermutlich blühen würde. Wer weiß, wer das Geld an meiner statt bezahlen wird.“

Anfang des Jahres war sie wieder in Gaza. In der Leichenhalle des Al Aksa Hospitals. Da, wo die Opfer der israelischen Angriffe aufgebahrt werden und vor dem Eingang die Angehörigen mit den Fäusten gegen die Tür hämmern, um einen letzten Blick auf die Toten werfen zu dürfen. „Mich interessiert einfach der Zusammenhang zwischen Gewalt, Traumatisierung und Sprachlosigkeit“, sagt Emcke. Es ist schwer zu sagen, inwieweit die Erfahrung des Herrhausen-Attentats ihren Anteil an diesem Interesse haben. Ihre Geschichten handeln jedenfalls fast nie von Tätern, aber immer von Opfern.

Nach Gaza hat sie – wie so oft – Sebastian Bolesch begleitet, ihr Fotograf. Als er das Café Luzia in Berlin Kreuzberg betritt, lacht Emcke zum ersten Mal übers ganze Gesicht. Die beiden umarmen sich wie alte Freunde. „Dieser Mann“, sagt Emcke, „hat einen nicht zu überschätzenden Anteil an meiner Arbeit. Wir ergänzen uns perfekt.“

Bolesch ist ein jungenhafter Typ. 41 Jahre alt. Rundliches Gesicht. Viele Lachfalten. Ein Tattoo am rechten Oberarm. Sie braucht ihn als Berater, als Beschützer, als Korrektiv. „Ich bin über die Jahre immer unsicherer darin geworden, mir ein Urteil zu bilden“, sagt Emcke. „Das ist nicht nur eine Frage der Recherche-Dauer. Ich bekomme ein immer größeres Gefühl für die Verantwortung, die ich trage. Damit erkennt man aber auch stärker, dass es viele Perspektiven gibt, aus denen man eine Geschichte betrachten kann.“

Beiden gemein ist der Drang in die Ferne. Bolesch schwärmt von der Solidarität in Krisengebieten, Emcke von der menschlichen Wärme, die man gerade in armen Regionen erlebe. Wenn die beiden in ein Flugzeug steigen, haben sie keinen einzigen Termin im Kalender stehen. Die Begegnungen und Geschichten für ihre Reportagen ergeben sich erst vor Ort. Trotzdem bereitet sich Emcke lange auf die Reisen vor. Sie liest alles über das Zielland, was sie in die Hände bekommt – und hört dazu die Musik der Region.

„Wir haben unterwegs immer ein ganz intensives Level an Erfahrungen“, schwärmt Bolesch. „Das macht fast süchtig. Schlimmer als die Arbeit in Krisenregionen finde ich, dass bei der Rückkehr plötzlich alles von einem abfällt. Da bräuchte ich manchmal fast drei Tage Quarantäne.“

Emcke nickt bestätigend. Oft schweigt sie nach ihrer Rückkehr erst einmal über das Erlebte. „Ich will ja auch von meinen Freunden etwas erfahren, und nicht jedes Mal mit Geschichten kommen, die einen solchen Grad an Schwere und Bedeutung haben, dass sie sich nicht mehr trauen, über ihre Beziehungsprobleme zu reden. Ganz häufig erzähle ich deshalb erst einmal nichts, weil ich die Normalität behalten will.“ Statt lange zu reden, hat sie ihren Freunden Briefe geschrieben. Lange Briefe, die in einem mehrfach preisgekrönten Buch versammelt sind: „Von den Kriegen“ heißt es.

Die nächsten Monate wird sie in Berlin bleiben, der einzigen deutschen Stadt, in der sie nach eigenen Worten zu Hause sein kann, in die sie als Jugendliche manchmal heimlich abgehauen ist, nachdem ihre Eltern vom Ruhrgebiet mit ihr nach Hamburg gezogen sind. „In Berlin fühle ich mich nie fremd“, sagt Emcke. „In Hamburg gehöre ich irgendwie nicht hin. In München habe ich ständig das Gefühl, ich habe einen Fleck auf der Hose und werde gleich verhaftet. Berlin ist dagegen so bloß, so ungeheuchelt, ungeschönt und wirklich international.“

Sie sitzt immer noch im Café Luzia bei schwarzem Tee und Apfelschorle. Der Betreiber muss die Einrichtung auf lauter Flohmärkten zusammengesucht haben. Blaue, rote und graue Sessel aus den siebziger Jahren stehen auf abgetretenen Holzdielen. An einer Gold getünchten Wand lehnt eine grüne Kinobank. Omas Fernsehschrank verstaubt in der Ecke. Im Hintergrund läuft ein Weltmusik-Sampler. Das Luzia ist Emckes Berliner Lieblingscafé.

Sie sagt, sie suche noch immer nach dem Taxifahrer. Jenem, der sie am Tag des Herrhausen-Attentats wortlos vom Frankfurter Flughafen nach Bad Homburg fuhr. Sie stieg damals aus dem Auto, ohne ihn zu bezahlen. Auch nach Erscheinen des Essays hat er sich nicht bei ihr gemeldet. „Leider“, sagt Emcke. Vielleicht erinnert sich der Taxi-Fahrer ja an Bruchstücke jenes Nachmittags, die in ihrem Gedächtnis fehlen. Vielleicht würde er ja mit ihr reden wollen. Über den Tag, als der verkohlte Mercedes quer auf der Straße stand.

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01. August 2008 von ralfgeissler
Kategorien: Geschichte, Justiz, Medien, Politik | Schreibe einen Kommentar

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