Der Menschenflüsterer

Andres Veiel bringt Menschen zum Reden, die sonst nie öffentlich sprechen würden. Immer wieder gelingt es ihm, zu seinen Interviewpartnern ein tiefes Vertrauensverhältnis aufzubauen. Für seine Dokumentarfilme erhielt er mehr als dreißig Auszeichnungen.

journalist 01/2009

Andres Veiel kommt zu spät. Mit großen Schritten durchquert der 49-Jährige das Café Molinari in Berlin Kreuzberg. Die dunklen Haare zerzaust, der Hemdkragen schief. „Ich war noch Joggen“, entschuldigt sich Veiel. „Und da habe ich im Geiste eine Szene für meinen neuen Film konstruiert. Bevor ich sie vergesse, musste ich sie zu Hause im Groben noch schnell aufschreiben.“

Veiel setzt sich auf einen Holzstuhl und bestellt Frühstück. Er sieht aus, als brauche er ein paar Minuten, um aus der Welt seines neuen Films wieder aufzutauchen. Veiel ist ein Mensch, der für seine Recherchen nicht nur lebt, sondern tief in ihnen versinkt. Der preisgekrönte Dokumentarfilmer kann sich scheinbar endlos mit ein und demselben Thema beschäftigen.

So dauerte seine Arbeit an „Die Spielwütigen“ sechs Jahre. In der Langzeitdokumentation portraitiert Veiel vier Schüler der renommierten Schauspielschule Ernst Busch in Berlin. Man sieht sie bei der Aufnahmeprüfung, bei ihren Eltern, beim Unterricht und im Prozess der Desillusionierung, wenn der Dozent die Proben wegen mangelnden Talents seiner Schüler einfach abbricht. „Mich haben Menschen interessiert, die diesen Mythos vom erfolgreichen Schauspieler im Kopf haben und dann erstmal klein gehackt werden“, sagt Veiel.

Immerhin fünf Jahre genehmigte er sich für seine Recherchen an der mehrfach preisgekrönten Dokumentation „Black Box BRD“, in der Veiel den RAF-Terroristen Wolfgang Grams und den ermordeten Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen in einem Doppelportrait gegenüberstellt. Allein mit der Witwe Traudl Herrhausen traf sich Veiel zwanzig Mal. Zum Vorgespräch. Die Drehtermine kamen dann noch dazu.

Manche fragen sich, wie er das aushält. Dieses scheinbar endlose Graben. „Das hört sich immer so mystisch an, dass man sich quält und den Fels immer wieder den Berg hochschiebt, der am Ende doch wieder nach unten rollt“, sagt Veiel. „Aber das schreibt ja schon Albert Camus: Man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen, weil der Stein nicht an die gleiche Stelle runter rollt, sondern immer zu einer anderen. Und dort, wo er liegen bleibt, kann ich etwas Neues entdecken.“

Für seine Entdeckungen wurde Veiel mehr als dreißig Mal ausgezeichnet: Deutscher Filmpreis, Europäischer Filmpreis, Preis der deutschen Filmkritik, Konrad-Wolf-Preis. Das einhellige Lob lautet: Veiel gewährt tiefe Einblicke in das Seelenleben seiner Protagonisten. Kein anderer Dokumentarfilmer rückt seinen Hauptfiguren so sehr auf den Leib, ohne sie dabei zu denunzieren. Wer einmal „Black Box BRD“ gesehen hat, die Szene, in der Traudl Herrhausen über den Moment des Attentats auf ihren Mann spricht, der weiß, mit welcher Gabe Veiel gesegnet ist. Er kann so gut zuhören, dass sich Interviewpartner ihm völlig öffnen und eine Welt aufgeht.

„Die zwanzig Vorgespräche mit Traudl Herrhausen waren nötig, um zwischen uns Vertrauen aufzubauen. Sie musste für sich selbst herausfinden, ob und wie es möglich ist, über die Erfahrungen von Trauer und Verlust vor einer Kamera zu sprechen“, sagt Veiel. „Einmal saßen wir während der Dreharbeiten beim Mittagessen und hatten schon über alles gesprochen, außer über diesen einen Moment, in dem sie die Explosion hört und versucht, ihren Mann auf dem Mobiltelefon zu erreichen. Und plötzlich erzählte sie diese Geschichte bei Spargel und Schinken. Keiner bekam mehr einen Bissen runter. Aber sie musste es erzählen, bevor die Kameras wieder liefen, weil sie einfach wissen wollte: Schaffe ich das und bewahre mir dabei noch ein Mindestmaß an emotionaler Kontrolle.“

Wenn man Veiel reden hört, klingt er manchmal wie ein Psychologe, so sehr seziert er das Gefühlsleben seiner Gesprächspartner. Tatsächlich hat Veiel in Berlin Psychologie studiert. Anschließend absolvierte er eine Zusatzausbildung am Berliner Künstlerhaus Bethanien in Dramaturgie und Regie. Die Einnahmen seiner ersten Regie-Arbeiten waren allerdings bescheiden. „Ich habe 1989 insgesamt 7.000 Mark verdient. Und damals dachte ich, ich werde wohl doch das Messingschild an die Haustür hängen müssen: Psychologische Praxis Veiel – Alle Kassen.“

Mit dem Dokumentarfilm „Balagan“ gelang ihm 1993 der Durchbruch. Veiel erzählt darin von einer jüdisch-palästinensischen Theatergruppe in Akko. Die Frankfurter Allgemeine nannte den Streifen damals „einen Film, der es sich mit allen verdirbt“, denn die jungen Schauspieler inszenieren ein Stück mit dem Titel „Arbeit macht frei“, vergleichen den Nationalsozialismus mit dem Zionismus und kritisieren, dass der Holocaust in Israel zu einer Religion geworden sei.

Trotzdem erhielt Veiel dafür 1994 das Filmband in Silber verbunden mit einer Prämie von 700.000 Mark. Von dem Geld finanzierte er „Die Überlebenden“. Darin geht er den Selbstmorden von drei seiner ehemaligen Klassenkameraden nach. „Meine Filme haben immer einen biographischen Bezug“, sagt Veiel. „Sonst könnte ich mich nicht so lange mit ihnen beschäftigen.“

Veiel ist in Stuttgart Möhringen aufgewachsen. In einem konservativen Milieu. Zu spät geboren, um noch 68er zu werden, doch fasziniert vom Rebellischen jener Generation. Auch die drei Klassenkameraden wollten ausbrechen, wünschten sich ein bisschen Revolution. Doch sie scheitern unter anderem an den Vorstellungen ihres Elternhauses und selbst auferlegten Zwängen. Veiel interviewte alle, die zurückblieben – Freunde, Angehörige und ging der Frage nach, ob es Schuldige für die Suizide gibt.

„Im Nachhinein habe ich mich gefragt, ob ich zu weit gegangen bin“, sagt Veiel. „In der Beziehung zu den Eltern von Rudi und Tillmann gab es einen Totalschaden. Mit beiden habe ich nach dem Film nie wieder geredet. Und für meine Mutter war es schwer, weil sie dann zum Teil in Möhringen nicht mehr bedient wurde. Ich habe immer wieder den Kontakt gesucht, aber es gelang mir nicht, das zu reparieren.“

Derzeit recherchiert Veiel über die erste Generation der RAF. Als Jugendlicher hat er die Junge Union Möhringen mitgegründet, dann ging er zu den Stammheim-Prozessen gegen die Gründer der RAF und trat aus der CDU-Jugendorganisation wieder aus. Er trug einen Poncho, lange Haare und zog einmal in der Mercedes-Stadt Stuttgart ein Auto ohne Reifen über die Straße. Damals sagte ein CDU-Abgeordneter zu ihm: „Wenn Du in diesem Staat etwas werden willst, geh nicht mehr zu den Prozessen. Ich sage Dir als Freund, es gibt ein Dossier über Dich.“

In diesem Moment, erzählt Veiel, habe er endgültig die Seiten gewechselt. „In einem Staat, der über Unschuldige Dossiers anlegt, wollte ich gar nichts werden. Damals habe ich mir einen Werkzeugkasten zusammengestellt, für die kritische Demontage von unhinterfragten Macht- und Autoritätsverhältnissen. Und seitdem kreist meine Arbeit um den Deutschen Herbst.“

Veiel hat hunderte Texte und Interviews zur RAF ausgewertet. Inzwischen, so sagt er, könne er das Handeln von Andreas Baader verstehen, ohne dafür Verständnis aufzubringen. Eine Episode hat ihn in den vergangenen Monaten besonders beschäftigt. Es geht darin um den Besuch Baaders bei seiner Mutter im März 1968. Baader erzählt ihr, er wolle in Frankfurt ein Kaufhaus anzünden. Doch die Mutter antwortet nicht etwa: Bist Du verrückt geworden, Junge? Mach Dich nicht unglücklich! Sie sieht ihrem Sohn in die Augen und fragt: Bist Du dafür auch reif genug?

„Warum sagt eine Mutter so etwas zu ihrem Sohn?“, fragt Andres Veiel. „Da musste etwas dahinter stecken. Deshalb bin ich dem nachgegangen.“

Zum ersten Mal wird er aus seinen Recherchen einen Spielfilm drehen. „Ich entscheide immer anhand des Materials, welche Darstellungsform ich wähle. Die Übergänge zwischen Dokumentarischem und Fiktionalen sind aber fließend. Auch beim Dokumentarfilm suche ich aus, stelle Szenen gegeneinander.“

Nach seinen letzten Recherchen wählte Veiel die Form des dokumentarischen Theaters. „Der Kick“ erzählt nach, wie drei junge Männer im Sommer 2002 im brandenburgischen Potzlow einen 16-Jährigen stundenlang quälen und schließlich durch einen Sprung auf den Hinterkopf töten. Als Veiel zum ersten Mal nach Potzlow kam, um zu recherchieren, wollte kein Mensch mit ihm reden. „Selbst der Pfarrer hat uns gesagt: Gehen Sie wieder nach Hause. Da war mir klar, mit Kameras habe ich hier keine Chance.“

Gemeinsam mit der Dramaturgin Gesine Schmidt beschließt er deshalb, ein Theaterstück aus dem Stoff zu machen. Ohne Kamera gelingt es den beiden, die Menschen im Dorf zu öffnen. Schmidt und Veiel wollen den Tätern eine Biografie geben, die Hintergründe des Mordfalls nacherzählen. Nach langem Zögern redet zuerst die Sozialarbeiterin. Und dann sprechen auch die anderen. Als nach Wochen das Eis endgültig gebrochen ist, lassen Veiel und Schmidt bei den Gesprächen ein Tonband mitlaufen. „Je öfter wir dorthin kamen, um so mehr merkte ich, dass es ein großes Bedürfnis gab, sich mitzuteilen“, sagt Veiel.

Dank der Vermittlung durch die Rechtsanwälte redet Veiel im Gefängnis auch mit Marcel, einem der Mörder. Beim fünften Treffen ist der 20-Jährige bereit, über den Abend der Tat zu sprechen. „Am Ende hatte er ein erstaunliches Vertrauen zu uns. Und ich habe mich lange gefragt, wieso sich das Klima so verändert hat, wieso er plötzlich in ganzen Sätzen mit uns redet. Und das lag einfach daran, dass wir nicht gegangen sind. Er hat damit gerechnet, wenn er den Tathergang erzählt, dann muss sich jeder abwenden, weil das so monströs ist, so bestialisch, dass niemand das aushält. Aber die Tatsache, dass wir geblieben und dann sogar wiedergekommen sind, war für ihn die Überraschung. Das hat unser Verhältnis grundlegend verändert.“

Nach den Recherchen hatte Veiel 1.400 Seiten Material, die er zu 40 Seiten Theaterstück verdichtete. Inzwischen hat er noch ein Buch geschrieben – ein Lehrstück über Gewalt. Bis heute hält er Kontakt nach Potzlow. Veiel versucht stets, mit den Protagonisten seiner Werke in Verbindung zu bleiben. Das ist nicht immer leicht. Denn für viele rühren seine Recherchen an alten Wunden. Traudl Herrhausen soll nach der Pressevorführung von Black Box BRD zu ihm gesagt haben: „Das ist nicht der Film, den ich mir über meinen Mann gewünscht habe. Aber es ist ein Film, um die Geschichte der Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren besser zu verstehen.“

Die Witwe hatte wie alle anderen Hauptfiguren der Dokumentation ein Mitspracherecht, welche Ausschnitte über sie zu sehen sein werden. „Ich mache meine Filme ja mit den Protagonisten und nicht gegen sie“, sagt Veiel. „Bei einem Interview sprechen Menschen viel offener, wenn sie wissen, dass sie das Material noch einmal sehen und auch verhindern können.“

Einmal wäre es allerdings fast schief gegangen. Bei der Pressevorführung zu Black Box BRD erschien auch der Vater des RAF-Terroristen Wolfgang Grams mit dem festen Willen, die Passage, in der es um seine Zeit bei der Waffen SS geht, noch zu stoppen. „Am Ende hat ein Journalist der FAZ den Film gerettet, der nach der Vorführung auf Werner Grams zuging und sagte: ,Dass Sie diesen Mut hatten, über ihre Vergangenheit zu sprechen. So offen. Das hätte ich mir von meinem Vater auch gewünscht.‘ Daraufhin hat Werner darauf verzichtet, die Passage herausschneiden zu lassen.“

Wer länger mit Andres Veiel spricht, dem fällt auf, dass er viele seiner ehemaligen Interviewpartner beim Vornamen nennt. Das passiere automatisch, sagt er, wenn man sich so intensiv, so lange mit ihnen beschäftigt. „Es ist mein zehnjähriger Sohn, der mich aus den Tiefen der Recherche dann wieder zurückholt. Er ist das wichtigste Korrektiv. Obwohl ich vor der Geburt unsicher war, ob ich mit meinen Projekten der Vater-Rolle gewachsen sein werde, war es dann Liebe auf den ersten Blick.“

Andres Veiel sitzt im Café Molinari, die Unterarme auf den Tisch gestützt. Er muss los, will die Szene ausbauen, die ihm beim Joggen eingefallen ist. Drei Jahre arbeitet er an dem Streifen über die erste Generation der RAF schon. Das heißt allerdings nicht, dass er bald fertig sein wird. Veiel braucht noch Zeit, um möglichst viel zu verstehen. Der Film, sagt er, kommt vermutlich 2011.

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01. Januar 2009 von ralfgeissler
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