24h Volker Heise

Für seine Fernsehdokumentation 24hBerlin ließ Volker Heise dutzende Berliner einen Tag lang mit einer Kamera begleiten. Entstanden ist die längste TV-Dokumentation der Geschichte.

journalist 09/2009

Eine Stadt erzählen. In all ihren Facetten, mit all ihren Brüchen. Volker Heise hat es versucht. Der Regisseur fing einen Tag Berlin ein. Er schickte gleichzeitig achtzig Kamerateams zu mehr als einhundert Menschen in der Hauptstadt und ließ sie einen Tag lang begleiten. Exakt ein Jahr später wird das Ergebnis ausgestrahlt. In der längsten TV-Dokumentation der Geschichte: 24hBerlin. Ein Tag im Leben von Oberbürgermeister Klaus Wowereit, Bild-Chef Kai Diekmann, dem Dirigenten Daniel Barenboim und vielen unbekannten Berlinern wie einer Dichterin, einem Rapper, einem Junkie oder einem Müllfahrer der Stadtwerke.

Nur eine Person fehlt: der Ideengeber. Ein Tag im Leben von Volker Heise.

7 Uhr: Berlin Kreuzberg

Eine Dreizimmer-Wohnung in einem teilsanierten Haus aus der Gründerzeit. Volker Heise sitzt mit seiner Frau beim Frühstück. Die beiden Söhne schlafen noch. Es ist früh am Morgen. Ein paar aufgearbeitete Sechziger-Jahre-Möbel überstrahlen die Schlichtheit der Ikea-Küchenzeile. Auf dem Esstisch stehen Brötchenkorb, Konfitüre und Honig. Heise liest in der Frankfurter Allgemeinen und schlürft Earl Grey aus einer Designer-Tasse von Kaj Franck. „Das ist das Meißener Porzellan fürs moderne Bürgertum“, sagt Heise und lacht. Der 48-Jährige mit der halb eingefassten Brille mag Ironie. Und Selbstironie mag er besonders.

Manche haben über ihn gesagt, er sei verrückt. Oder größenwahnsinnig. Ein Kollege hat Heise vor etwa drei Jahren gefragt, ob er eine Vollmeise habe. Wie er annehmen könne, dass ein Fernsehsender einen ganzen Tag Programm für ihn frei räumen werde. „Solche Stimmen gab es schon“, sagt Heise. Aber dann kaufte nicht nur der RBB sein 24 Stunden langes Portrait über Berlin, sondern auch Arte, TV-Programme in der Schweiz, in Finnland, in Israel und in den Niederlanden. „Es war gar nicht so schwer, die Sender zu überzeugen.“, erzählt Heise. „Viele waren von der Idee fasziniert.“

Am 5. September wird die Mammut-Dokumentation zu sehen sein. Genau ein Jahr vorher, dem einzigen Drehtag, arbeiteten 400 Menschen für das Projekt. Produktionskosten: rund 2,8 Millionen Euro. „Ich hatte nie den Anspruch, ein wagnerianisches Gesamtkunstwerk zu schaffen“, erzählt Heise. „Ich erwarte auch nicht, dass die Leute den ganzen Tag zuschauen. Das Stadtportrait funktioniert wie ein Fernsehprogramm. Man kann sich 24 Stunden lang spontan einschalten. Und dann sieht man einen Ausschnitt aus dem Alltag einer Metropole.“

9 Uhr: Gneisenaustraße

Volker Heise lebt seit Anfang der achtziger Jahre  in dieser Metropole. Sein Arbeitsweg führt ihn zu Fuß durch Berlin Kreuzberg in eine ehemalige Dreherei. Zweiter Stock in einem Hofgebäude. Ein hoher, heller Empfangsraum mit abgetretenen Dielen. Hier sitzt die Produktionsfirma Concept AV, bei der Heise seine Mammut-Dokumentation geschnitten hat.

Er musste mit den Mitarbeitern mehr als 700 Stunden Rohmaterial in hochauflösendem HD bewältigen sowie einige Dutzend Amateurvideos. Auf die Frage, ob er diese Unmengen wirklich alle angesehen habe, lacht Heise. „Die Parole des gesamten Projekts lautet: Keiner kennt alles. Auch ich nicht.“ Die Begutachtung des Rohmaterials teilte er auf. Ein zehnköpfiges Team sichtete und sortierte bei Concept AV im Schichtbetrieb. Heise war oft dabei, aber nicht immer.

„Wenn ich mich für einen Cutter entscheide, dann entscheide ich mich bewusst für ihn, weil ich seine Handschrift schätze, seine Arbeitsweise. Und dann vertraue ich ihm auch, lasse ihn allein arbeiten und muss nicht ständig Anweisungen geben.“

10 Uhr: Heises Küchenbüro

Heise setzt sich in die Firmenküche. Der weiß getünchte Raum mit Herd, Kühlschrank und einer Kräuterzucht auf dem Fensterbrett diente ihm in den vergangenen Monaten oft als Büro. Ein eigenes Zimmer hat Heise in der Produktionsfirma nicht. In der Küche ist er immer ansprechbar. Die Cutter können auf einen Schwatz vorbei kommen.

Heise gilt als sanfter Regent, trägt gern Polo-Shirt und Stoffhosen. Wenn er über den Tag spricht, an dem ihm die Idee zu 24hBerlin gekommen ist, klingt er fast banal. „Ich saß im Berliner Hauptbahnhof bei McDonalds. Da entdeckte ich im Tagesspiegel einen kleinen Artikel, dass ein Brite sich an einem Tag von hunderten Leuten ihren genauen Tagesablauf als E-Mail schicken ließ. Und da dachte ich: Warum eigentlich als E-Mail? Warum hält man so einen normalen Tag nicht im Film fest?“

Heise macht sich einen Kaffee und liest dann auf seinem Laptop die Webseiten der internationalen Tageszeitungen. Danach beantwortet er E-Mails. Dabei hackt er auf die Tastatur ein wie auf eine alte Schreibmaschine. „Das ist noch eine Angewohnheit aus Journalistentagen“, sagt Heise. Er hat viele Jahre bei den Radio-Sendern Fritz, Inforadio und Radio Eins im Aktuellen gearbeitet. Erst vor neun Jahren stieg er komplett auf hintergründige Fernsehproduktionen um.

Zum ersten Mal führte er bei der Erlebnisdokumentation „Schwarzwaldhaus 1902“ Regie und bekam dafür 2003 prompt den Grimme-Preis verliehen. Er entwickelte Doku-Soaps, drehte für die ARD das Presenter-Format „Matusseks Reisen“ und für Arte „Die kulinarischen Abenteuer der Sarah Wiener“.

11 Uhr: Im Schnitt

Der Raum der Wahrheit misst keine 20 Quadratmeter. Schwarze Vorhänge verdecken die Fenster. „Hier im Schnitt sieht man, wie geeignet das Material für die Dokumentation ist – egal, was man gedreht hat oder was man sich beim Dreh vorgestellt hat“, sagt Heise. Er sitzt neben seiner Cutterin Annette Muff vor vier Bildschirmen. Beide arbeiten seit Jahren eng zusammen.

Heute müssen sie entscheiden, welche Protagonisten sich für eine 90-minütige Kurzfassung von 24hBerlin eignen. Auf einem großen Monitor erscheint Kai Diekmann. Der Bild-Chefredakteur beugt sich über einen Stapel Zeitungen und entdeckt, dass am Vortag eine Meldung zum Thema Hartz IV durch die Presse ging. Chemnitzer Forscher behaupten, 132 Euro im Monat würden zum Leben reichen. Diekmann ärgert sich, dass sein Boulevardblatt die Geschichte verschlafen hat.

Ein paar Einstellungen später sitzt Diekmann in der Konferenz. Die Redaktion will das Thema am nächsten Tag groß aufziehen und diskutiert, ob ein Euro pro Monat für Kultur ausreicht. „Ist es Aufgabe des Staates, die Arbeitslosen zu unterhalten“, fragt ein Redakteur. Und Bild-Chef Diekmann rechnet: „Ein Euro im Monat macht zwölf Euro im Jahr. Das reicht für einmal Kino.“

Heise macht sich Notizen in einem großen leeren Buch. „Mein Problem mit dem Material ist, dass im Ausland niemand weiß, was Hartz IV ist“, sagt er und wiegt den Kopf. Die Szene wird es aber wohl trotzdem in die internationale Kurzfassung schaffen – mit etwas mehr Text im Untertitel.

Die ausländische Version ist derzeit seine wichtigste Baustelle. Vor einigen Wochen waren Vertreter einer japanischen Rechtefirma da. Nachdem sie Auszüge gesehen hatten, reagierten sie enttäuscht: „To less Brandenburg Gate!“ Heise hat bewusst darauf verzichtet, Berlin als Touristenstadt zu zeigen. In die internationale Fassung müssen wohl doch ein paar Wahrzeichen mehr rein.

Und auch ein paar Prominente wird er stärker erklären müssen. Klaus Wowereit etwa, oder eben Kai Diekmann. Dass der Axel-Springer-Verlag Heise überhaupt bei Bild filmen ließ, hat viel Überzeugungsarbeit gekostet. Mehr als ein Jahr vor dem eigentlichen Drehtag begann der Dokumentarfilmer mit der Suche nach Protagonisten für das Projekt. Sie sollten einen Teil der Hauptstadt repräsentieren und in ihrer Gesamtheit einen Querschnitt bilden aus jung und alt, arm und reich, beliebt und einsam.

Den logistischen Aufwand kann erahnen, wer einen Blick auf die vielen Organigramme an den Wänden des Schneideraums wirft. Auf zwei Meter hohen Pinnwänden sind Dutzende Namen und Orte angepinnt. „Ich habe mal ein Koordinatensystem gemacht, da ging eine Achse von Jung nach Alt und die Andere von Arm zu Reich“, erzählt Heise. „Und als wir alle Protagonisten dort einsortiert hatten, stellte ich fest: Uns fehlt noch eine wohlhabende Frau, Mitte Vierzig.“

13 Uhr: Bei Käsebrötchen und Salat

Pause bei Concept AV. Volker Heise kaut an einem Käsebrötchen und redet über das Scheitern. Vor ihm hat die Küchenfrau Suppen, Salate und kalte Platten aufgebaut. Sie kommt jeden Tag in die Räume der Firma und bekocht das Team. „Jedes Projekt bringt einen an Grenzen,“ sagt Heise. „Und natürlich gab es Momente, in denen ich dachte: Ich kann nicht mehr, es geht nicht mehr weiter.“

Doch die große Vision hat ihn immer wieder aufgerüttelt – und vielleicht auch die Ahnung, dass er an einem Lebenswerk arbeitet, für das er zahlreiche renommierte Kollegen gewinnen konnte. So machte die Aufnahmen bei Bild der mehrfach ausgezeichnete Andres Veiel. Rosa von Praunheim war für Heise in einem Schwulen-Club in Neukölln unterwegs. Der Drehtag war ein großes, wenn auch hektisches Familientreffen der deutschen Dokumentarfilmer. Die unterschiedlichen Stile kann man in der Endfassung noch erkennen.

Trotzdem trägt das Gesamtwerk Heises Handschrift. Eine ruhig geschnittene, permanente Parallelmontage, die behutsam zwischen den Protagonisten wechselt. Scheinbar simpel. Und schön anzuschauen. „Ich mag ja das angelsächsische Modell“, sagt Heise. „Dort gilt die Vereinbarung, dass der Zuschauer immer gut unterhalten werden muss. In Deutschland neigen viele dazu, den Eliten zu gefallen. Das war schon immer so. Nehmen Sie Shakespeare und Goethe. Shakespeare musste seinen Laden voll kriegen. Und Goethe – der war halt Hofrat.“

16 Uhr: Im alten Volvo

Heise hat nichts von einem Hofrat. Das zeigt auch sein Auto. Wer dort einsteigt, braucht Mut. „Das ist eine Abwrackprämie auf vier Rädern“, sagt der Regisseur und lacht. Der rote Lack des achtzehn Jahre alten Volvos ist verblichen, die Polster durchgesessen, die Armaturen wacklig. „Ich liebe das Auto“, sagt Heise. „Man kann da noch ganz viel selbst basteln.“ Er fährt am Hauptbahnhof vorbei in Richtung Wedding zur Produktionsfirma Zero One, deren Teilhaber er ist. Wenn die Büros von Concept AV das Gehirn der Produktion sind, schlägt bei Zero One das Herz.

In dem Backsteinbau, in dem die Armee früher Stiefel herstellte, feilte Heise mit seinem Produzenten Thomas Kufus monatelang an der Idee. In manchen Nächten hat Heise hier auf einem Feldbett geschlafen, weil es sich nicht gelohnt hätte, nach der Arbeit noch nach Hause zu fahren.

Inzwischen ist das fast vergessen. Kufus hat schon Feierabend und von den anderen Mitarbeitern ist auch nur noch eine Handvoll im Büro. Heise bespricht die Einladungen für die Party am Sendetag und lässt sich die Telefonnummer von Sarah Wiener geben. Mit der Köchin plant er eine neue Staffel der kulinarischen Abenteuer. Das wird sein erster Job nach dem Großprojekt.

20 Uhr: Kino Yorckstraße

Am Abend fährt Heise zurück in seinen Kreuzberger Kiez. Er kauft in der Markthalle Salat und überrascht seine Familie. So früh hatte er seit Monaten keinen Feierabend mehr. Nach dem Abendbrot spaziert er mit seiner Frau ins Kino Yorckstraße. Es läuft „Zerrissene Umarmungen“ von Pedro Almodóvar. „Bei dem habe ich mal einen genialen Schnitt geklaut“, sagt Heise. „In ,Alles über meine Mutter‘ fährt ein Zug in einen Tunnel und dann schneidet Almadóvar den weiten Himmel dagegen. Das fand ich unglaublich stark.“

Es ist der erste gemeinsame Abend für das Paar seit Monaten. Heise hat endlich wieder ein bisschen Freizeit, nachdem er über Monate den Alltag der Berliner betrachtet hat. „Die Kunst bestand oft darin, die Geschichte nicht zu sehr ins Banale abrutschen zu lassen. Wie viel Alltag verträgt eine Dokumentation? Das war eine Frage, die uns immer wieder beschäftigt hat“, erzählt Heise.

Der Spannungsbogen musste sich zudem in ein enges dramaturgisches Korsett fügen. Heise wollte unbedingt eine Dokumentation in Echtzeit produzieren. Was am 5. September 2008 zwischen sechs und sieben Uhr gedreht wurde, wird genau ein Jahr später zwischen sechs und sieben Uhr ausgestrahlt. Der Film verläuft chronologisch nahezu exakt.

Heises Tag endet kurz nach Mitternacht. Da geht er ins Bett. Was er geträumt hat, daran kann er sich am nächsten Morgen nicht mehr erinnern. Aber eins dürfte sicher sein: Der Traum spielte in Berlin.

Über ralfgeissler

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01. September 2009 von ralfgeissler
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