Einerseits, andererseits

Seit einem halben Jahr leitet Ines Pohl die taz. Sie verdient nur noch halb so viel früher. Und vielleicht wäre sie heute reich, wenn sie als Jugendliche auf ihre Gesangslehrerin gehört hätte. Stattdessen ärgert sie sich nun mit einem Riesen-Penis an der taz-Fassade herum.

journalist 03/2010

Am Anfang hat sie eines klar gestellt. Endlose Debatten kann sie nicht ertragen. Ines Pohl hat bei der taz die Sitzungen gestrafft. Nie wieder sollen die Immergleichen ewig um Banalitäten streiten. Wenn eine Diskussion eskaliert, stellt die Chefredakteurin Rednerlisten auf. „Früher hatten es junge Kollegen schwer, hier zu Wort zu kommen“, sagt Pohl. „Vielleicht sogar schwerer als in anderen Redaktionen.“ Das sei nun besser.

Seit Juli leitet die 42-Jährige die taz. Man kann nicht sagen, dass die Zeitung seitdem frecher, linker oder origineller geworden ist. Pohl wirkt bislang vor allem nach Innen. Sie bittet in die rote Ledersitzgruppe ihres Büros. Der flache Glastisch zwischen Couch und Sessel glänzt frisch poliert. Am Fenster wuchern Grünpflanzen. Am Bücherregal lehnt eine lebensgroße Pappfigur von Michele Obama, die lächelnd in die Hände klatscht. „Die Figur hat mir meine amerikanische Freundin geschenkt“, sagt Pohl. „Damit mir hier wenigstens eine applaudiert.“

Pohl lacht. Wer ihr das erste Mal begegnet, spürt schnell, dass sie anders tickt als ihre zierliche, quirlige Vorgängerin Bascha Mika. Pohl kann mit ihrer tiefen, klangvollen Stimme Räume füllen. Sie wirkt ruhig, selbstbewusst und durch ihre dunkle Kurzhaarfrisur ein wenig burschikos. Nachdem sie die Chefredaktion übernommen hatte, kaufte sie erst einmal einen höhenverstellbaren Schreibtisch. „Der alte passte nicht zu meiner Körpergröße.“

Manchem Kollegen war sie anfangs zu selbstbewusst. Während ihrer ersten Tage wurde Pohl als „Chefpraktikantin“ verspottet. Sie hatte noch nie bei der taz gearbeitet, kannte weder Redakteure noch Gepflogenheiten. Dass sie in einem Interview dem Spiegel erzählt hat, die taz müsse „dezidierter, frecher, mutiger sein“, kam in der Redaktion nicht gut an. Auch ihre Aussage, sie wolle das Blatt „weiter links positionieren“ irritierte viele.

Doch Pohl hat es innerhalb weniger Monate geschafft, die Stimmung zu drehen. Sie lernte das Redaktionshandbuch auswendig, prägte sich Namen und Gesichter ein. An manchen Tagen blieb sie 14 Stunden im Büro. „Ines ist extrem präsent, redet mit allen“, lobt heute Geschäftsführer Kalle Ruch. „Erstaunlicherweise wirkt sie gar nicht mehr wie eine, die neu im taz-Kosmos ist“, sagt Sonntaz-Ressortleiter Georg Löwisch. „Ines kann Diskussionen sehr gut moderieren“, freut sich Inlandsressortleiter Ulrich Schulte.

Pohl führt die Redaktion inzwischen, fast ohne anzuecken. Das ist eine Leistung. Aber wer nirgendwo aneckt, stößt auch nichts an. Konzepte, Visionen, Ideen. Die selbstbewusste Chefredakteurin hält sich erstaunlich zurück. „Ich bin nicht mit einem Masterplan angetreten“, sagt Pohl. „Wenn man von Außen kommt, ist man gut beraten, erst einmal zuzuhören.“

Dabei könnte die taz ein paar mutige Ideen durchaus gebrauchen. Da ist zum Beispiel taz2. Die undefinierbaren ersten Seiten des zweiten Zeitungsbuches, an die sich Kultur, Medien und Sport anschließen. Keiner weiß so recht, was taz2 eigentlich soll. „Das Profil hat sich verwässert“, sagt Pohl. Im Februar hat sie einen neuen Ressortleiter eingesetzt. Was er ändern soll, lässt sie offen. „Wir diskutieren noch.“

Ähnlich ist es mit dem Internetangebot. Anfang Januar wurde es optisch überarbeitet. Doch das war nur ein Zwischenschritt. Noch in diesem Jahr soll die taz ein neues Redaktionssystem erhalten, das sowohl für Print als auch für Online genutzt werden kann. Mit der Einführung ergeben sich neue Möglichkeiten. Pohl hat eine Redakteurin beauftragt, ein Gesamtkonzept für das Internet zu entwickeln. Welche Vorstellung sie selbst hat, bleibt unklar. Die Chefredakteurin spricht über soziale Netzwerke, Kommentarfunktionen, mehr Hintergrund, weniger Tempo. Dann resümiert sie, nichts sei entschieden.

Sie ist vorsichtig. Moderiert. Einerseits und anderseits. „Meine Idee von Führung ist, Strukturen zu schaffen, in denen die Redakteure ihre Ideen leben können“, sagt Pohl. Seit ihrer Erfahrung mit dem Spiegel-Interview will sie niemanden mehr vor den Kopf stoßen, nichts falsch machen, ihre große Liebe nicht enttäuschen. Und Pohl liebt die taz. Es war die erste Zeitung, die sie von ihrem eigenen Geld abonniert hat.

Geboren wurde Ines Pohl 1967 in Mutlangen. Am Ortsrand stationieren die USA ab 1982 atomare Mittelstreckenraketen. Pohl schließt sich der Friedensbewegung an. Ihr Abitur legt sie an einem staatlichen Musik-Internat in Schwäbisch-Gmünd ab. Sie erhält dort eine Gesangsausbildung, spielt Klavier, Orgel und Akkordeon. Nach der Schule drängt ihre Lehrerin sie zu einem Gesangsstudium. Doch Pohl hat keine Lust und reist mit 2000 Mark nach Neuseeland. Das Geld reicht nicht lange. Die 19-Jährige trampt ein Jahr lang von Farm zu Farm, hütet Schafe und erntet Kiwis.

„Es war richtig cool, aber manchmal auch fürchterlich einsam“, sagt Pohl. „Internet gab es nicht. Telefoniert habe ich nur einmal zu Weihnachten. Da wollte ich meinen Eltern natürlich nichts vorheulen. Ich war ja die taffe Tochter.“ Nach ihrer Rückkehr studiert sie in Göttingen Skandinavistik und Germanistik. In ihrer Abschlussarbeit vergleicht sie die Literatur von Max Frisch und August Strindberg. Sie will Deutschlehrerin in Schweden werden, bleibt aber als Frauenbeauftragte an der philosophischen Fakultät hängen.

Männer dominieren die Hochschule damals noch mehr als heute. Nur rund zehn Prozent der Lehrstühle sind mit Professorinnen besetzt. „Ines Pohl hat sich dafür eingesetzt, diese Dominanz zu brechen“, erinnert sich Dorothea Mey. Die ehemalige Frauenbeauftragte der gesamten Universität arbeitet in jenen Jahren eng mit Pohl zusammen. „Ihr politisch-strategisches Denken ist damals stark geprägt worden“, so Mey. Pohl lernt, zu argumentieren, zu motivieren, Gegner mit Kompromissen einzubinden.

Noch heute ist ihr das Thema Gleichberechtigung wichtig. Besonders in der taz. Fragt man Pohl, wo sie inhaltlich weitere Schwerpunkte setzen will, fallen ihr spontan soziale Gerechtigkeit, Integrationspolitik und Rechtsextremismus ein. „Demnächst wird das Parlamentsbüro neu besetzt“, sagt Pohl. „Dann wollen wir uns unter anderem noch stärker um die Gesundheitspolitik kümmern.“

Die Themen werden allerdings auch von anderen überregionalen Zeitungen abgedeckt. „Wir sind unabhängiger, können kritischer berichten“, erwidert Pohl. „Und wir bleiben dran.“ Vielleicht stimmt das sogar. Vielleicht wird die taz wirklich wichtiger. Der Süddeutschen Zeitung merkt man ihre zahlreichen Sparrunden inzwischen an. Die besten Autoren der Frankfurter Rundschau verschwinden in einem Redaktionspool für vier Blätter des DuMont-Verlages. Der Konkurrenz geht es eher schlecht.

Die taz hat dagegen vergangenes Jahr einen kleinen Gewinn erwirtschaftet. „Wir hatten das beste Ergebnis seit Mitte der neunziger Jahre“, freut sich Geschäftsführer Kalle Ruch. Man könnte davon eine große, witzige Kampagne finanzieren. Den Gewinn ausbauen. Doch der Redaktion stecken noch die Anstrengungen des vergangenen Jahres in den Knochen: Amtseinführung von Barack Obama, Bundestagswahlen, dreißigster taz-Geburtstag und die Einführung der Sonntaz. Der Verlag hat vom Gewinn zunächst die niedrigen Gehälter der Mitarbeiter erhöht. Aggressives Marketing macht die taz immer nur, wenn es ums Überleben geht. Eigentlich schade.

Dabei ist Ines Pohl durchaus kampagnenerprobt. Sie hat Flugblätter getextet und am Pershing-Camp bei Mutlangen Müsli-Bällchen an Polizisten verteilt. Neben ihrer Arbeit als Frauenbeauftragte beginnt sie in den neunziger Jahren als freie Journalistin zu arbeiten. Sie berichtet für den privaten Radiosender FFN und die Hessisch/Niedersächsische Allgemeine (HNA). Dort macht sie auch ihr Volontariat und steigt innerhalb von zehn Jahren zur Ressortleiterin für Innenpolitik auf. 2002 kauft die Mediengruppe von Dirk Ippen das Blatt – ein sehr konservativer Verleger. Pohl beginnt sich unwohl zu fühlen. Aber sie bleibt.

Sie arbeitet noch für den Verlag, als Andrea Ypsilanti im März 2008 eine rot-grüne Landesregierung unter Duldung der Linkspartei schmieden will. Die HNA kritisiert diese Pläne und wirft Ypsilanti Wahlbetrug vor. In der hessischen SPD sagen sie heute, die Zeitung habe ihnen damals den Krieg erklärt. Dass im Inlandsressort eine verantwortliche Redakteurin sitzt, die eher Sympathien für die Sozialdemokraten als für die Konservativen hegt, sei nicht aufgefallen.

„Die Schere im Kopf ist nicht zu unterschätzen“, sagt Pohl und machte eine lange Pause. So manchen Kommentar habe sie damals nicht schreiben dürfen. Andere seien nicht veröffentlicht worden. Im Frühjahr 2008 ist der Leidensdruck so groß, dass sie erstmals Kontakte zur taz knüpft. Das Inlandsressort sucht eine neue Leiterin. Pohl bewirbt sich, hat gute Chancen. Doch mitten im Bewerbungsverfahren bietet Ippen ihr eine Stelle als Korrespondentin in Berlin an. Sie soll für alle Blätter der Gruppe schreiben. Pohl nimmt an. „Ich dachte, ich hätte in Berlin mehr Freiheiten. Aber das war ein Irrtum.“ Ein knappes Jahr später wird sie Chefredakteurin der taz.

In ihren ersten sechs Monaten hatte sie keine besonders gute Presse. Die Ursache kann man noch an der Ostfassade des taz-Gebäudes besichtigen. Dort hängt eine Karikatur von Kai Diekmann mit einem über fünf Stockwerke erigiertem Penis. Anders als von vielen Redakteuren erwartet, tobte der Bild-Chefredakteur nicht, er machte sich darüber lustig. Ines Pohl hatte das Kunstwerk nicht in Auftrag gegeben und plädierte dafür, es wieder abzuschrauben. Sie wolle nicht unter prall gefüllten Hodensäcken arbeiten. Daraufhin ließ Diekmann eine falsche taz-Sonderausgabe drucken, in der er den Genossen Verklemmtheit vorwarf. Tenor: Satire darf alles. Der Pimmel über Berlin muss bleiben!

„Diekmann war gut, und wir hatten kein Konzept, wie wir medial mit dem Werk an der Wand umgehen wollten“, sagt Pohl heute. „Aber getrieben hat er uns nicht.“ Die Berichterstattung sei ihr irgendwann so sehr auf die Nerven gegangen, dass sie ihren Google Alert abbestellt habe. „Ich bin hier, um eine kritische Zeitung zu machen. Und nicht, weil ich mich mit dem Dödel beschäftigen will.“

So schnell wird sie das Thema allerdings nicht los. Der Künstler Peter Lenk hat mit einer Klage gedroht, sollte sein Wandrelief vor den vereinbarten zwei Jahren demontiert werden. Nun hofft Pohl auf den Frühling. Wenn die Bäume vor der Fassade Blätter bekommen, werden sie das Gemächt vermutlich verdecken. Vielleicht verschwindet das Kunstwerk auch hinter einem Hotel. Japanische Investoren wollen auf dem Nachbargrundstück bauen. Dafür müssten allerdings die Bäume abgeholzt werden. Das finden sie in der taz auch nicht gut.

Ines Pohl sagt über sich selbst, sie sei eine Idealistin. Auch wenn das Wort einen naiven Unterton habe. „Ich werde mich nicht damit abfinden, wenn ein Kind Hartz-IV bekommt und in der Armutsfalle festsitzt.“ Sie verdient bei der taz nur noch halb so viel wie früher. Aber sie verzichtet bewusst. „Man muss in seiner Karriere auch mal innehalten und sich fragen: Bin ich noch auf dem richtigen Weg“, sagt Pohl.

Sie stellte sich diese Frage bereits vor fünf Jahren. Damals war sie Stipendiatin der Niemann Foundation for Journalism in Harvard. Sie sang dort in einem Musical mit, lernte ihre jetzige Freundin kennen, besuchte Kurse über Migration, Religionen und Unternehmensführung. Besonders geprägt hat Pohl aber die Begegnung mit Stipendiaten aus dem Iran, aus Pakistan und Südafrika.

„Manche haben erzählt, dass sie verhaftet wurden, weil sie die Wahrheit schreiben wollten“, sagt Pohl. Da sei ihr klar geworden, wie wichtig unabhängiger Journalismus ist. Und dass man bereits ein bisschen was aufgibt, wenn man die Schere im Kopf ansetzt. Wäre Pohl nicht nach Harvard gegangen, säße sie vermutlich heute noch bei der Verlagsgruppe Ippen. „Seit ich in Harvard war, weiß ich wieder, warum ich Journalistin geworden bin.“

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01. März 2010 von ralfgeissler
Kategorien: Medien | Schreibe einen Kommentar

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