Der Aufräumer

Paul-Josef Raue leitet seit 100 Tagen die Thüringer Allgemeine. Er setzt dort jene Maßnahmen um, die sein Vorgänger Sergej Lochthofen falsch fand. Die Redaktion schwankt zwischen Hoffen und Bangen.

journalist 04/2010

Es muss Menschen geben, die Paul-Josef Raue wirklich verachten. Wer im Internet oder in Archiven nach seinem Namen sucht, stößt auf Polemik, Geläster und Anfeindungen. Da ist von einem Theoretiker mit Wagenburgmentalität die Rede. Von nie gekannten Tiefpunkten der Zusammenarbeit. Vom Königsmörder. Und von einem Provinzjournalisten, dem der Bürgermeister wichtiger war als die Bürger.

„Ja“, bestätigt Raue, „mein Internet-Image ist verheerend.“ Und dann fragt er: „Kennen Sie schon die neue Glosse von Klaus Kocks?“ Der Kommunikationsberater beschreibt den 59-Jährigen im PR-Magazin als eine Mischung aus Dampfplauderer und Despoten. „Das war bislang das Böseste, was über mich erschienen ist“, sagt Raue. Er lächelt sanft. Viel Feind, viel Ehr.

Seit exakt 100 Tagen leitet Raue die Thüringer Allgemeine. Er sitzt im Büro des Chefredakteurs im zweiten Stock des Verlagsgebäudes am Rand von Erfurt. Vieles erinnert hier noch an seinen Vorgänger Sergej Lochthofen. Im Regal stapeln sich zurückgelassene Bücher. Der ausladende graue Schreibtisch stößt wie eh und je tief in den Raum. Auch Lochthofens schwarze Designer-Sessel stehen noch an der Stelle, die er dafür ausgewählt hat. Raue ließ im Büro nichts umräumen und hat nichts hinzugefügt – mit Ausnahme einer kleinen Hängeregistratur. „Ich mag Ordnung“, sagt er.

Auch Lochthofen bemühte sich stets um einen aufgeräumten Eindruck. Doch während der alte Chefredakteur stark nach überregionaler Anerkennung strebte, setzt Raue aufs Lokale. „Unser Hauptstadtbüro muss sich jetzt häufiger damit beschäftigen, wie die Bundestagsabgeordneten aus Thüringen abgestimmt haben“, sagt er und spricht von mehr Bürgernähe. Seit Januar erscheint täglich eine Leserbriefseite, auf der auch eingesandte Gedichte abgedruckt werden. Mancher Feuilletonredakteur hat mitleidig gelächelt. Die größten Veränderungen stehen aber noch bevor.

„Dort oben werden wir ein Großraumbüro für die gesamte Mantelredaktion einrichten“, sagt Raue. Er blickt aus dem Fenster und zeigt auf den fünften Stock eines backsteinfarbenen Seitenflügels. Die Nachmittagssonne spiegelt sich in den großen Scheiben. „Da sind 800 Quadratmeter frei. So groß wie zwei Ballsäle.“

Raue gibt zu, dass viele Redakteure dafür nur ungern auf ihre eigenen Büros verzichten werden. Zumal es direkt unterm Dach im Sommer sehr heiß werden kann. „Wir finden eine Lösung“, versichert Raue, während er mit der Hand durch seine akkurat getrimmten Haare streift. Das hellgraue Hemd spannt etwas über seinem Bauch. Raue wirkt trotz eines ewigen Fünf-Tage-Barts ausgesprochen bieder. Wie ein Beamter, der stets seine Pflicht erfüllt. Doch man unterschätzt ihn leicht. Raue ist ein Aufräumer. Er sortiert die Dinge gern.

Bis zum Herbst will er in Erfurt einen sogenannten Regionaltisch einrichten. An ihm sollen alle 14 Lokalausgaben der Thüringer Allgemeinen zentral koordiniert und produziert werden. „Die Redakteure in der Region werden dadurch entlastet und haben mehr Zeit zum Recherchieren und Schreiben“, sagt Raue. Die strikte Trennung in Reporter und Blattmacher erinnert an angelsächsische Medien und ist ein ausdrücklicher Wunsch des Verlages. „Der Tisch wird keine Produktionsmaschine, keine Legebatterie“, sagt Raue. „Die Mitarbeiter sollen die Qualität sichern, mit den Reportern über Texte diskutieren.“

Auch für den Mantelteil strebt er so ein Modell an. Ein Kernteam aus sechs bis acht Redakteuren soll an einem zentralen Tisch die überregionalen Seiten und das Internetangebot bauen. Die Ressorts liefern dann nur noch Inhalte. So ähnlich hat er es schon einmal vor etwa fünf Jahren als Chefredakteur der Braunschweiger Zeitung umgesetzt. „Das war extrem erfolgreich“, sagt Raue.

Seine Pläne werden die Struktur der Thüringer Allgemeinen stark verändern. Doch die einst so aufmüpfige Redaktion wirkt wie betäubt. Nach einigen Gesprächen gewinnt man den Eindruck, die Revolution hat ihre Kinder nicht nur gefressen. Sie hat sie auch schon verdaut.

Wie anders war das im Dezember. Der Verlag hatte Sergej Lochthofen nach zwanzig Jahren abberufen. Die Mitarbeiter protestierten, schrieben ihren Unmut in die Zeitung. In einer Resolution forderten sie die Rücknahme der Entscheidung. Einige hielten sogar einen Streik für denkbar. Denn so zwiespältig sie Lochthofen auch sahen – der prominente Chefredakteur hatte die Zeitung immer vor übertriebenen Sparwünschen verteidigt.

Heute glauben viele Redakteure, der Verlag werde sich von bestimmten Strukturveränderungen nicht abbringen lassen. Egal, wer die Zeitung leitet. „Ab einem bestimmten Punkt lohnt es sich nicht mehr, fundamentalen Widerstand zu leisten“, sagt Ralf Leifer. „Da müssen sie versuchen, das Beste daraus zu machen.“ Der Geschäftsführer des Deutschen Journalistenverbandes in Thüringen findet Raues Pläne nicht prinzipiell schlecht. „Aber ich fürchte, dass die Veränderungen genutzt werden, um beim Personal zu kürzen.“ Mitarbeiter, die nur noch Recherchieren und Schreiben, lassen sich leicht durch freie Autoren ersetzen.

Schon jetzt wird gespart. Neben der Thüringer Allgemeinen gibt die Zeitungsgruppe auch die Thüringische Landeszeitung heraus. Die Verbreitungsgebiete überschneiden sich in sechs Kreisen. Die betroffenen Lokalredaktionen sollen ab Ostern Texte und Bilder intensiv austauschen. Der Verlag verspricht dafür nicht nur Bestandsschutz für beide Titel, sondern auch mehr Qualität. DJV-Geschäftsführer Leifer sieht es dagegen mit Skepsis: „Ich habe Angst, dass irgendwann zwei Ausgaben von dem Personal gemacht werden müssen, das jetzt für eine Ausgabe zuständig ist.“

Raue begegnet solchen Ängsten mit verblüffender Offenheit. Er gibt zu, dass sein Etat kleiner werden wird: „Die zentrale Frage lautet doch: Wie kann ich mit weniger Personal eine bessere Zeitung gestalten?“ Die Antwort läge in der geplanten Trennung nach Reportern und Blattmachern. Zwar wolle er niemandem betriebsbedingt kündigen. „Aber es kann passieren, dass frei werdende Stellen nicht wieder besetzt werden.“

Manche Kollegen sehen in ihm deshalb den Erfüllungsgehilfen der Verlagsmanager. Raue setze nun alle Sparrunden durch, die Lochthofen nicht mittragen wollte. Das Bild von der Marionette, die stets ihren Herren gehorcht, stimmt trotzdem nicht. Auch Raue hat ein starkes Ego.

Geboren wird er am 13. Juni 1950 als Sohn eines Streifenbeamten und einer Hausfrau in Castrop-Rauxel. Nach dem Abitur studiert er Philosophie und Religionswissenschaften in Bochum. Nebenbei pfeift Raue als Schiedsrichter Fußballspiele und schreibt Sportberichte für die Ruhr Nachrichten. Nach dem Studium bewirbt er sich für den ersten Lehrgang an der Journalistenschule in Hamburg. „Es waren zwanzig Plätze zu vergeben“, erinnert sich Raue. „Ich stand nach dem Eignungstest auf Platz 21.“ Er bekommt die Zulassung nur, weil ein anderer Bewerber kurzfristig absagt.

Schulgründer Wolf Schneider spricht heute von seinem schwierigsten Jahrgang. Die meisten Schüler hätten sich wie Rebellen aufgeführt. Späte Achtundsechziger. Diskussionen ohne Ende. „Leistung galt denen als Schimpfwort“, sagt Schneider. „Und Raue war ein ganz harter Knabe.“ Zur Klasse gehören damals auch der heutige Geo-Chefredakteur Peter-Matthias Gaede und die Brandeins-Gründerin Gabriele Fischer.

Alle gemeinsam verwickeln sie Schneider in zermürbende Debatten. Sie belehren ihren Schulleiter, es sei völlig uninteressant, wie man einen Kommentar aufbaue. Der Inhalt triumphiere letztlich über die Struktur. Später organisiert Schneider eine Exkursion zu den ersten Zeitungssetzern an elektronischen Maschinen. Die Schüler verweigern ihre Teilnahme. Aus Solidarität. Die moderne Technik, so argwöhnen sie nicht zu Unrecht, werde viele Setzer arbeitslos machen.

„Schneider kam damals von Axel Springer und einige von uns hatten vor dem Verlagsgebäude auf den Barrikaden gestanden“, erinnert sich Raue. Die gegenseitigen Verletzungen gingen tief. Doch heute verstehen sich der ehemalige Schüler und der Schulleiter blendend. „Ich habe großen Respekt vor Raue gewonnen und ihn mehrfach als Dozenten eingeladen“, sagt Schneider. Vor knapp fünf Jahren sei Raue sogar als Leiter der Henri-Nannen-Schule im Gespräch gewesen. „Er hätte das Zeug dazu gehabt“, so Schneider. „Wir sind uns in unserer harten Art sehr ähnlich.“

Gemeinsam haben sie das „Handbuch des Journalismus“ geschrieben. Außerdem regte Raue Wolf Schneider zum Ratgeber „Deutsch fürs Leben“ an. Eine Streitschrift mit fünfzig Regeln wider den Sprachluder. „Ich habe mir von Schneider ein Buch gewünscht, mit dem ich meinen Redakteuren sagen konnte: Das verstößt gegen Sprachregel Nummer zehn. Und sieh Dir nochmal Regel zwanzig an“, sagt Raue. Das klingt ein bisschen kleinkariert. Ein Exemplar der dreizehnten Auflage hat er in Erfurt ins Regal gestellt.

Seinen letzten Kampf an der Journalistenschule focht Raue mit Peter-Matthias Gaede aus. Die beiden haben um den einzigen Praktikumsplatz beim Stern gestritten. „Bis nachts um Vier diskutierten wir, die wir ja eigentlich Achtundsechziger sein wollten, über unsere Karrieren“, sagt Raue. Er habe sich durchgesetzt und sogar einen festen Vertrag bekommen. Allerdings verließ er den Stern schon nach wenigen Monaten wieder voller Zorn, weil er nicht als Reporter nach Moskau zu den Olympischen Spielen fahren durfte. Stattdessen nimmt seine Karriere als Lokaljournalist ihren Anfang.

Nach Stationen beim Vlothoer Tagblatt und beim Soester Anzeiger wird Raue mit 34 Jahren bei der Oberhessischen Presse in Marburg jüngster Chefredakteur der Bundesrepublik. Er druckt als einer der ersten Lokalgeschichten auf der Titelseite, was einen Kollegen dazu veranlasst, den Untergang des Qualitätsjournalismus zu prophezeien. So manchem Verlagsleiter imponiert dagegen Raues Mut. 1996 stellt ihn die Frankfurter Neue Presse als Chefredakteur ein. Kaum angekommen sprengt er die Ressortgrenzen, trennt sich von Mitarbeitern und räumt den Problemen bei der städtischen Müllabfuhr mehr Platz ein als Leitartikeln aus Berlin.

Raue macht aus dem Blatt eine „Heimatzeitung“. Das Konzept provoziert Widerstand. Die Redaktion zetert und flucht über den ihrer Meinung nach provinziellen Chef. Einer schimpft, Raue reformiere das Blatt, bis es „reif für den Reißwolf“ sei. Der bizarre Kulturkampf beschäftigt 1997 bundesweit die Medienjournalisten. Am Ende fordert der Betriebsrat unmissverständlich Raues Rauswurf. Und die Geschäftsführung beugt sich. Ein ungewöhnlicher Vorgang.

„Raues Konzept ist eisern richtig gewesen“, sagt heute Wolf Schneider. „Wenn die Regionalzeitungen überleben wollen, müssen sie in der Lokalberichterstattung stark sein.“ Der Gekündigte selbst redet ungern über seine Frankfurter Jahre. „Es war meine schwierigste Zeit“, sagt Raue. Den Kritikern sei es keineswegs nur um die Regionalstrategie gegangen. „Die Frankfurter Neue Presse war eine sehr konservative Zeitung. Und ich habe sie etwas mehr in die Mitte gerückt. Das hat einigen nicht gepasst.“

Seit Frankfurt wisse er, in welches Loch ein gekündigter Chefredakteur fallen könne. Er spielt auf seinen Vorgänger an. Als Raue im Dezember die Leitung der Thüringer Allgemeinen von Sergej Lochthofen übernahm, probte das Theater Erfurt gerade Macbeth. Shakespeares Stück vom Königsmord. Manche haben Raue vorgehalten, er sei der eigentliche Königsmörder. Er habe Lochthofen nach zwanzig erfolgreichen Jahren vom Thron gestoßen. Raue selbst findet diesen Vergleich absurd. Nicht er habe die Personalie entschieden, sondern der Verlag.

Dieser drängte ihn auch, Anfang Dezember so schnell wie möglich nach Erfurt aufzubrechen. Raue konnte noch nicht einmal eine Wohnung mieten. Die ersten Wochen nächtigte er im Hotel. Lochthofen selbst habe ihm die überstürzte Übernahme nicht übel genommen, behauptet Raue. „Er hat mir ein Fax geschickt. Darin schreibt er, dass unser kollegiales Verhältnis unter den Ereignissen nicht leiden dürfe.“ Wie ernst diese höfliche Geste zu nehmen ist, wissen nur die Beteiligten selbst.

Was aus Lochthofen nun wird, ist unklar. Raue fand nach seinem Rauswurf in Frankfurt schnell eine neue Aufgabe. Er wird 1998 Mitglied der Gründungsredaktion des Wirtschaftsmagazins Econy, aus dem Brandeins hervorgeht. Ein Jahr später übernimmt er die Leitung der Magdeburger Volksstimme. Eine Kollegin aus dieser Zeit beschreibt ihn als führungsschwach und blass. „Er war nicht unfreundlich, aber ohne Konzept. Raue verschlimmerte nichts, machte aber auch nichts besser.“ Vielleicht steckt ihm in jenen Jahren noch der Schrecken aus Frankfurt in den Knochen. So plötzlich wie er in Magdeburg erscheint, so schnell verschwindet er wieder. 2001 wechselt Raue zur Braunschweiger Zeitung.

Nirgendwo hat er so lange ausgeharrt wie dort. Er verändert das Blatt grundlegend, setzt auf regionale Themen, führt den Newsdesk ein. Er wird nicht geliebt, weil er Versetzungen anordnet und in Sitzungen auch mal laut wird. Rückblickend urteilen die Kollegen aber milde. „Wir hatten eine gute Zusammenarbeit“, sagt Reinhard Wagner. Der stellvertretende Betriebsrat erzählt, dass die Redaktion vor vier Jahren eine neue Arbeitszeitregelung wollte. „Raue hielt das für nicht durchsetzbar“, so Wagner. „Aber er bot uns etwas anderes an. Damals wurden vielerorts Redakteure durch Leiharbeiter ersetzt. Raue versprach, darauf zu verzichten. Das gilt bis heute.“

Unter Raues Führung heimst die Braunschweiger Zeitung zahlreiche Auszeichnungen ein. Zuletzt nahm er am 31. August den Lokaljournalistenpreis der Konrad Adenauer Stiftung entgegen. Geehrt wurde sein Konzept der Bürgerzeitung. Blogger haben ihm allerdings vorgeworfen, er berichte derart unkritisch über die Lokalpolitik, dass es sich in Wahrheit um eine Bürgermeisterzeitung handele. „Selbst diejenigen, die so etwas behauptet haben, kamen bei uns zu Wort“, entgegnet Raue. Er bemüht sich, Kritiker einzubinden.

In Erfurt bleibt ihm auch nichts anderes übrig. Er ist ganz allein nach Thüringen gekommen. Die Sekretärin Lochthofens kümmert sich heute um Raues Termine. Auch die beiden Stellvertreter sollen bleiben. „Das habe ich immer versichert und dazu stehe ich auch“, sagt Raue. Er führte lange Gespräche in allen Ressorts und rief eine Arbeitsgruppe ins Leben, die nun die Bedingungen für die Newsdesks aushandeln soll. Aus dem Tagesgeschäft hält sich Raue im Gegensatz zu seinem Vorgänger weitgehend heraus. Kommentare schreibt er kaum. „Noch nie hatten wir so viele Freiheiten wie heute“, sagt ein Redakteur. „Aber wir hatten auch noch nie so viele Ängste.“

Derzeit gibt es bei der Thüringer Allgemeinen 131 fest angestellte Redakteure. Man muss davon ausgehen, dass die Belegschaft schrumpfen wird. Die Frage lautet nur: Wie stark? Die Redaktion wird wahrscheinlich Raues letzte Station vor seinem Ruhestand. Seit mittlerweile 26 Jahren leitet er mit Unterbrechungen Regionalzeitungen. Auch er ist eitel und wird sein Lebenswerk mit einer Erfolgsgeschichte krönen wollen. Darauf setzen sie in Erfurt: Dass Raue an seinem schlechten Ruf etwas ändern will. Dass er sich wünscht, im Internet mehr freundliche Texte über sich zu finden.

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01. April 2010 von ralfgeissler
Kategorien: Medien | 1 Kommentar

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