Der Sonnenkönig

Steile Thesen statt tiefer Analysen. Seit Ostern leitet Gabor Steingart das Handelsblatt. Mal preist der einstige Spiegel-Mann griechische Staatsanleihen, mal stellt er Wirtschaftskonflikte als Comic dar. Ob das der Auflage hilft?

journalist 10/2010

In Gabor Steingarts Fantasie trug die Finanzkrise ein zotteliges Fell und hatte gelbe Zähne. In New York zertrampelte sie die Infrastruktur und riss Banken ein. „Sie war wie King Kong“, sagt Steingart und beugt sich über einen Stapel Fotos aus der Verfilmung von Peter Jackson. „Hier kommt die Finanzkrise nach Deutschland“, sagt er und zeigt auf einen grimmigen Riesengorilla. Vor dem Ungeheuer steht ein weiß gekleidetes Mädchen. Steingart nickt lächelnd. „Jane. Sie symbolisiert Angela Merkel.“

Man fragt sich kurz, ob der Chefredakteur des Handelsblatts wohl Drogen genommen hat. Es ist der Tag, bevor sich die Pleite der Investment-Bank Lehman Brothers zum zweiten Mal jährt. Am Morgen hatte Steingart die Idee, das Ereignis mit dem Monster-Affen zu bebildern. Ein sechsseitiger Schwerpunkt soll es werden. Steingart zieht das nächste Motiv aus dem Stapel. King Kong klettert an der Fassade eines Wolkenkratzers hoch. Angeschossen, er fällt fast. „Hier beginnen die Konjunkturprogramme zu wirken“, sinniert Steingart.

Seit Ostern leitet der 48-Jährige die Handelsblatt-Redaktion und fällt dort vor allem durch steile Thesen auf. So hatte Steingart in der Griechenlandkrise zum Kauf griechischer Staatsanleihen aufgerufen. Aus Solidarität. Wenig später druckte er einen Essay unter der Überschrift „Vorbild Planwirtschaft“, in dem Sätze fielen wie: „In China fällt es dem Staat auch leichter, durch gelenkte Medien die Stimmung im Volk zu beeinflussen.“ Es klang irgendwie bewundernd.

„Ein britischer Investmentbanker hat zu mir gesagt: Gabor, you have energized your readers“, sagt Steingart. Man könnte übersetzen, er polarisiert. Steingart sieht es so: „Die Leser sind jetzt mehr dabei.“ Auf jeden Fall haben Briefe und E-Mails zugenommen. Und mancher Manager rieb sich verwundert die Augen, als Steingart den Übernahmepoker zwischen Schaeffler und Continental als Comic darstellen ließ. „Jungen Leuten gefällt so etwas“, sagt Steingart, „Stammleser mag es vielleicht irritieren.“ Dennoch will er erwähnt wissen, dass die Zeichnungen zu grob zu Maria-Elisabeth Schaeffler waren. „Sie ist eine beeindruckende Frau.“

Steingart sitzt in seinem Düsseldorfer Büro, das erstaunlich trist wirkt. Die einzige Verzierung an der Wand ist ein riesiger Flachbildfernseher. Im Bücherregal liegen ein paar Krawatten. Steingart bestellt bei seiner Sekretärin Kaffee. Entkoffeiniert. „Ich bin schon munter genug.“

Wer Freunde und Gegner über Steingart befragt, bekommt oft skurrile Geschichten erzählt. Steingart habe als Volontär die Fleischwurst der Sekretärin geklaut, weil er so hungrig war. Er habe noch jung an Jahren mit Ex-Journalistenschülern in einer Bildungsstätte eine Bar aufgebrochen und geleert. Er habe viele Jahre eine Lenin-Büste im Büro stehen gehabt.

Auf jeden Fall ist Steingart unter den Chefredakteuren der überregionalen Qualitätszeitungen die schillerndste Figur. „Ein Sonnenkönig“, sagt ein Betriebsrat. Mehrere Kollegen erzählen, Steingart habe beim Handelsblatt einen Porsche als Dienstwagen verlangt. „Das stimmt nicht“, widerspricht er. „Damit könnte ich doch meine drei Kinder gar nicht mitnehmen.“ Es sei ein Mercedes Kombi geworden.

Gestern Abend hatte er junge Führungskräfte aus dem Verlag zu sich nach Hause eingeladen. Blattkritik, Gespräche über die Zukunft. „Mir ist noch einmal klar geworden, dass Leser unter 40 den Tag mit dem Internet beginnen“, sagt Steingart. „Die Zeitung wird überleben, aber sie hat in Gestalt von iPhone und iPad einen Bruder und eine Schwester bekommen. Das verändert das Familienleben.“ Er zeigt die Beta-Version der nächsten iPad-App, an der das Handelsblatt gerade arbeitet. Sie soll zum Jahresende fertig sein. Zeitgleich werde es einen neuen Internetauftritt geben.

„Das Layout wird schneller, dynamischer und macht bei Großereignissen spektakuläre Auftritte möglich“, kündigt Steingart an. Aktualisiert werde dann rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Die Pläne waren in der Redaktion wegen drohender Nachtschichten zunächst auf Widerstand gestoßen. Steingart fand eine unkonventionelle Lösung. „Wir haben weltweit mehr Korrespondenten als der Spiegel“, sagt er. „Wenn in Deutschland Nacht ist, werden unsere Kollegen im Ausland die Seiten aktualisieren.“

„Er hat gute Ideen“, sagt ein Redakteur. Aber viele Mitarbeiter sähen ihn kritisch. Steingart hat sich von neun Kollegen getrennt. Um Autoren zu motivieren, lobte er eine Prämie aus. Wer die meisten Exklusivmeldungen schreibt, bekommt am Jahresende 3.000 Euro. Wessen Geschichte es in die Tagesschau schafft, den lädt Steingart zum Essen ein. Der schnelle Scoop ist ihm mehr Wert als die Analyse. Die Frühsitzung ließ er vorverlegen. Trotzdem sagen Redakteure, sei der Stress zum Abend hin größer geworden. „Steingart wirft nachmittags oft alles noch einmal um“, stöhnt einer. Der Chefredakteur wolle täglich ein Magazin machen. Aktuell und exklusiv. Das brenne die Autoren aus. Im Betriebsrat heißt es, das Klima sei rauer geworden.

„Wir machen eine moderne Tageszeitung“, entgegnet Steingart. „Da steht nun mal nicht schon um 10 Uhr fest, wie sie am nächsten Tag aussehen wird.“ Damit das Handelsblatt 2011 wieder Gewinne schreibe, müssten alle mehr leisten. „Es gilt das Motto: Qualität kommt von Quälen.“ Außerdem ändere selbst der Spiegel seine Aufmacher kurzfristig.

Der Spiegel. Schon als Teenager wollte Steingart dorthin. „Mit 18 habe ich Chefredakteur Werner Funk geschrieben“, erinnert sich Steingart. Er bekam eine Absage. Nach dem Abitur an einer reformpädagogischen Privatschule studierte er Politik und Wirtschaft und gehörte anschließend zum ersten Lehrgang der Düsseldorfer Holtzbrinck-Schule für Wirtschaftsjournalisten. Etappenziel: Reporter bei der Wirtschaftswoche. Beim Redigieren seiner Artikel bestand Steingart darauf, daneben zu sitzen. „Ich wollte lernen, wie man das macht“, sagt er.

Den Weg in die Spiegel-Redaktion ebnete ihm schließlich die Wiedervereinigung. Weil von den etablierten Redakteuren kaum einer in den Osten wollte, wurde Steingart mit 28 Jahren doch noch eingestellt und nach Leipzig geschickt. Zur Einweihung des dortigen Spiegel-Büros kam auch der Herausgeber. „Rudolf Augstein war Ostdeutschland sehr wichtig“, sagt Steingart. Und ihm selbst war es wichtig, dass Augstein kam.

Der Ehrgeizige schmückt sich gern mit den Einflussreichen. Auf Steingarts Internetseite gibt es eine Fotogalerie. Dort sieht man ihn jeweils neben Gerhard Schröder, Angela Merkel, Henry Kissinger, Helmut Schmidt und Hillary Clinton. Ein Bild zeigt Joschka Fischer allein im Berliner Spiegel-Büro. Der Text darunter lautet: „Er nahm eine Sitzprobe am Schreibtisch des Büroleiters.“ Es ist Steingarts Schreibtisch.

Anfang der 90er Jahre wechselte er in die Hauptstadtredaktion, wurde später Ressortleiter Wirtschaft in der Hamburger Zentrale und 2001 Leiter des Berliner Büros. Schon früh haben Kollegen geraunt, er wolle einmal Stefan Aust beerben. Sein Verhältnis zum damaligen Spiegel-Chefredakteur beschreibt Steingart als „professionell, partnerschaftlich und nach 13 Jahren der Zusammenarbeit auch freundschaftlich“. Zumindest war es nicht immer harmonisch. „Es gab niemanden, der Aust so brutal widersprechen konnte wie er“, sagt Jan Fleischhauer, der mit Steingart befreundet ist.

Politisch waren sich Aust und Steingart wohl nahe. Gemeinsam rückten sie den Spiegel nach Rechts. Ab 2002 wurde die rot-grüne Regierungspolitik im Heft nahezu stetig verrissen. Das Berliner Büro schrieb über die Notwendigkeit radikaler Reformen. „Steingart hat geholfen, den Spiegel, das einst so stolze ,Sturmgeschütz der Demokratie‘, umzurüsten zur Spritzpistole der Angela Merkel“, frotzelte 2005 Tom Schimmeck.

Viele halten Steingart bis heute für einen Neoliberalen. Ein Missverständnis? Als junger Mann war Steingart aktives Mitglied der Grünen. Jan Fleischhauer sagt, sein Freund sei eher ein rechter Sozialdemokrat. Steingart selbst nennt sich einen Liberalen, der immer offen für neue Ideen ist. „Mein Motto ist das von Keynes: Ändern sich die Fakten, ändere ich meine Meinung.“ Vor allem hat er ein gutes Gespür für den Zeitgeist. Seine Ideologie ist die Ökonomie der Aufmerksamkeit.

Als die ersten Experten die deutsche Wirtschaft schlecht redeten, schrieb Steingart 2004 sein Buch „Deutschland – Der Abstieg eines Superstars“. Als sich gegen Ende der Großen Koalition allgemeine Politikmüdigkeit breitmachte, brachte er seine „Ansichten eines Nichtwählers“ in die Läden. Im Handelsblatt sprach er sich kürzlich für eine Frauenquote aus, obwohl er bislang nicht als Förderer von Kolleginnen aufgefallen ist. In seinem Berliner Spiegel-Büro arbeitete am Ende unter 18 Redakteuren nur noch eine Frau.

Seine Artikel hat Steingart in Hamburg gern mit diversen XXX abgeliefert und es dann den Dokumentaren überlassen, die richtigen Zahlen und Zitate für seine Thesen zu finden. „Das ist beim Spiegel üblich“, sagt er. „Und beim Handelsblatt mache ich das auch so, weil es effizienter ist.“

Während des Gesprächs vibriert im Fünfminutentakt sein Handy: neue Kurznachrichten. Nach zwanzig Minuten klingelt sein zweites Telefon. Am anderen Ende ist ein Mitarbeiter von Thomas Middelhoff. Der ehemalige Bertelsmann-Vorstand soll zum Jubiläum des Medienkonzerns einen Glückwunsch im Handelsblatt schreiben. „Das könnte er doch auf dem Flug machen“, ruft Steingart ins Telefon. „Sagen Sie ihm schöne Grüße von mir. Wenn er bis 18.10 Uhr liefert, dann passt das. Wir halten die Druckmaschinen für ihn an.“

Tatsächlich erscheint zwei Tage später Middelhoffs Gastkommentar, in dem er die Lage von Bertelsmann analysiert. Man fragt sich, ob sich die Mitarbeiter gefreut haben, von einem Ex-Vorstand bedacht zu werden, der ihnen zwar einst Glück brachte, inzwischen aber Karstadt in die Pleite gemanagt hat. Steingart hat sich das vermutlich nicht gefragt.

Sein Traum von der Spiegel-Chefredaktion platzte 2007. Damals war die Geschäftsführung der Mitarbeiter KG neu zu besetzen und Steingart kandidierte. Die Zeitungen schrieben, die Wahl sei eine Art Test für ihn. Doch von fünf Bewerbern holte Steingart das zweitschlechteste Ergebnis. „Ich bin ein Wahlverlierer – aber nur ein halber“, sagt er heute charmant lächelnd. „Ich bin damals auch angetreten, um die Wiederwahl des damaligen Sprechers der Mitarbeiter KG zu verhindern. Und immerhin das ist mir gelungen.“

Nach der Wahl ging Steingart in die USA und übertrug sein Buch „Weltkrieg um Wohlstand“ ins Englische. Stolz erzählt er, dass es auf Platz 8 in der Amazon-Bestseller-Liste kletterte und sogar CNN mit ihm Interviews geführt hat. Steingart bemüht sich gar nicht erst, seine Eitelkeit zu verbergen. Er war noch in Amerika, als der Holtzbrinck-Verlag ihn fragte, ob er das Handelsblatt übernehmen wolle.

Steingart hat die Zeitung nicht nur noch magaziniger gemacht, sondern stellte auch die erste Seite um. Eine Spalte am rechten Rand reißt jetzt alle Geschichten an, die das Handelsblatt exklusiv hat. Die Titelzeile erhielt ihre alte Größe zurück. Dadurch fällt die Zeitung am Kiosk stärker auf. Mehr Käufer könnte das Blatt gut gebrauchen. Im zweiten Quartal gingen die Absatzzahlen erneut zurück. Insgesamt liegt die verkaufte Auflage derzeit bei knapp 137.000 Exemplaren.

Seit seinem Amtsantritt hat Steingart die Entstehung nahezu jedes Handelsblatts begleitet. Selbst im Sommerurlaub ließ er sich die pdf-Dateien mailen. Er arbeitet so viel, dass die Redaktion manchmal das Gefühl hat, es gibt ihn zwei Mal. Auch heute nimmt er an der Mittagskonferenz teil, die am Rand des Newsrooms in einem grün gestrichenen Séparée stattfindet. „Wir nennen das hier die Grüne Hölle“, scherzt Steingart.

Zunächst erzählt er seinem Team, dass er mit Wolfgang Schäuble gesprochen habe. „Ohne das Wort Entschuldigung zu benutzen, habe ich gesagt: Ein Sünder tritt vor Sie“, berichtet Steingart. Am Tag zuvor hatte er mit Passagen aus einer Schäuble-Rede aufgemacht, die zwar im Manuskript des Bundesfinanzministers standen, die Schäuble aber gar nicht gesagt hatte. Steingart hielt das Unausgesprochene für große Rhetorik. Der Minister wohl eher nicht.

Über Videoleitungen sind zur Mittagskonferenz Korrespondenten zugeschaltet. Was morgen wohl Titelthema wird, fragt einer. Man kommt auf Peer Steinbrück zu sprechen, dessen neues Buch gerade erscheint. Wäre das Comeback des Ex-Finanzministers nicht ein Thema? Steingart erzählt, dass er morgen mit Steinbrück essen wird. Also abwarten. Ein Korrespondent hat die neue Shell-Jugendstudie gelesen. „Es gibt nur eine Sache, die unter Jugendlichen so out ist wie Drogen“, sagt er. „Und das sind Aktien.“ Allgemeines Raunen. Damit muss eine Wirtschaftszeitung aufmachen.

Am nächsten Tag verbindet die Titelgeschichte die Jugendstudie mit der Finanzkrise. Auf dem dazugehörigen Foto fletscht King Kong die Zähne. So eine Mischung ist wohl nur in der taz denkbar – oder beim Handelsblatt. Unter einem Chefredakteur Gabor Steingart.

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01. Oktober 2010 von ralfgeissler
Kategorien: Medien | Schreibe einen Kommentar

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