Manege frei

Horst Köhlers Rücktritt, Margot Käßmanns Alkoholfahrt und Thilo Sarrazins Thesen. Immer schneller erklären Journalisten ein Ereignis zum Skandal. Auf der Jagd nach dem nächsten Hype bleiben die wirklichen Aufreger am Ende folgenlos.

journalist 11/2010

Vielleicht sollte Thilo Sarrazin einfach mal Eva Herman anrufen. Die ehemalige Tagesschau-Sprecherin kennt sich aus mit schrägen Thesen und ihren Folgen. 2007 hatte sie ein Buch über Familienpolitik geschrieben, wochenlang die Schlagzeilen dominiert und sich von Politikern, Kollegen und Vorgesetzten beschimpfen lassen. Heute interessiert sich niemand mehr für Eva Herman. Jeder Hype endet einmal.

Aber vielleicht freut sich Sarrazin auch noch zu sehr, dass ihm ein Bestseller geglückt ist. Von seinem Buch Deutschland schafft sich ab sind mittlerweile 1,1 Millionen Exemplare gedruckt worden. Noch nie hat es hierzulande wegen ein paar unbelegter Behauptungen auf 465 Seiten Papier so viel Aufregung gegeben. 600 Journalisten drängten in die Bundespressekonferenz, als die Bertelsmann-Tochter DVA das Werk Ende August vorstellte. Evelyn Roll von der Süddeutschen Zeitung begann ihren Artikel über die Veranstaltung mit der naheliegenden Frage: „Ist ein Atomkraftwerk in die Luft geflogen?“

In gewisser Weise sind viele Journalisten Sarrazin auf den Leim gegangen. Obwohl sie wussten, dass kaum einer in Deutschland die Kunst des Marketings durch Tabubruch so gut beherrscht wie er, analysierten, hinterfragten und deuteten sie seine Thesen bis ins Detail. Dabei hatte der SPD-Politiker schon früher mit Begriffen wie „Kopftuchmädchen“ und der Behauptung, ein Hartz-IV-Empfänger könne sich für 3,76 Euro am Tag „völlig gesund, wertstoffreich und vollständig ernähren“, gezielt Aufmerksamkeit auf sich gezogen, ohne dass man seine Aussagen besonders ernst nehmen musste. Seinen Erfolg verdankt Sarrazin der medialen Skandalisierung seiner Person, die er mit gezielten Provokationen selbst herbeigeführt hat.

Seine Behauptung, bildungsferne Schichten würden ihre mangelnde Intelligenz vererben, musste auf Widerspruch stoßen und so sein Buch bekannter machen. Am Ende aber hat auch der Provokateur die Wucht der Empörungswelle unterschätzt. Es hörte einfach nicht mehr auf. Die Debatte um Thilo Sarrazin zeigt, dass mediale Hypes noch größer, schneller und aufgeregter verlaufen können, als es Medienprofis für möglich halten.

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Über ralfgeissler

Journalist

01. November 2010 von ralfgeissler
Kategorien: Medien, Politik | Schreibe einen Kommentar

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