Lotters Leben
Der wichtigste Mann bei Brand Eins ist ein Freiberufler. Wolf Lotter schreibt für das Wirtschaftsmagazin die Aufmacher, spottet über Berufsbeamte und lobt die Kreativen. Er war selbst mal fest angestellt, hat es als „Sitzredakteur“ aber nicht ausgehalten.
journalist 12/2010
Vielleicht ist er endlich angekommen. Nach sechs Umzügen in nur drei Jahren. Nach einer Odyssee durch die Metropolen Hamburg, München, Berlin und ihre Vororte nun also Eimke. Ein Provinznest in der Lüneburger Heide, 379 Einwohner und eine Kirche. „Gestern haben wir einen Hund gekauft“, sagt Wolf Lotter. „Einen Sheltie.“ Ein Hund macht sesshaft.
Der vielleicht scharfzüngigste Wirtschaftsessayist Deutschlands steht am Hamburger Hafen, während er über sein neues Zuhause spricht. Vor ihm schwappt die Elbe an den Kai, Schiffe legen ab. „Ich brauche die Stadt nicht mehr“, brummt Lotter. „Ständig dieser Lärm.“ Die große Freiheit könne auch ein Bauernhaus mit Ententeich sein. „Großstädter reden ja gern von ihren Kneipen und Theatern. Aber die meisten Abende sitzen sie vorm Fernseher.“
Lotter hat in Eimke keinen Fernsehempfang, dafür pralle Bücherregale, um mal etwas nachzuschlagen. Der gebürtige Österreicher schreibt stets über die großen Themen. Seine Artikel handeln von Freiheit, Veränderung und Selbstbestimmung, von Kreativität und Lebenslügen. Nur von Rastlosigkeit handeln sie nie. Dabei wäre das mal ein gutes Thema für den Mann, dem seine Freunde nachsagen, den deutschen Umzugsrekord zu halten.
Am Vormittag ist Lotter in sein Auto gestiegen – eine knappe Stunde bis Hamburg – um beim Wirtschaftsmagazin Brand Eins vorbei zu schauen, das er vor elf Jahren mit gegründet hat. Er war bei der Zeitschrift mal fest angestellt, hat das aber nicht lange ausgehalten. „Wenn Sie beim Schreiben immer auf den Büroflur schauen und an die nächste Konferenz denken, ist das der Tod einer guten Geschichte“, sagt Lotter. Er sei einfach kein Sitzredakteur. Zudem fand er sich ohne Festanstellung glaubwürdiger, weil er oft über die Vorzüge der Selbständigkeit schreibt.
Die große Freiheit, das war für ihn schon immer, eigenständig zu entscheiden, wann er textet, wo und mit wie viel Schokolade auf dem Schreibtisch. Seit Gründung von Brand Eins ist Lotter der wichtigste Autor des Magazins. Er kommt jetzt fünf Mal im Monat, um Themen zu diskutieren, mit Chefredakteurin Gabriele Fischer zu plaudern und seinen Zigarettenqualm in die Flure zu pusten.
Für fast jede Ausgabe verfasst Lotter den Aufmacher. Mal schreibt er über Glück, mal über Kunst, das Denken an sich oder die Arbeit. Fast immer entwirft er ein Panorama. Seine Wirtschaftsessays tragen philosophische Züge, umreißen historische Aspekte, ethische und politische. „Ich gehe gern Begriffen auf den Grund“, sagt Lotter. Qualität, Vergeudung, Nachhaltigkeit. „Ich frage mich, was sie ursprünglich bedeutet haben und wie die Gesellschaft sie heute versteht.“
Kürzlich schrieb er über das Problem vieler Unternehmer, einen Nachfolger zu finden. Lotter philosophierte über Kontinuität, analysierte die Nachfolgepolitik Cäsars, lästerte über den Erbadel, hinterfragte einen Spruch auf Friedhofsmauern und rätselte, wer Apple-Gründer Steve Jobs beerben könnte. Am Schluss bilanzierte er, was das Vermächtnis, das Erbe, die Substanz von Nachfolge sei: „Eine Idee, die weiterträgt – und die keine Angst haben muss, dass neue Menschen mit neuen Ideen sie verändern.“
Rund 5000 Wörter hat so ein klassischer Lotter. Zum Vergleich: Dieser Text hier bringt es auf reichlich ein Drittel. Dabei werden seine Essays fast nie langweilig, denn Lotter provoziert seine Klientel gern. „Volkswirtschaftlich gesehen ist das Ende einer Firma nach dem Abgang des Gründers keine tragische Angelegenheit“, ruft er den Patriarchen der Republik lässig entgegen. Manchmal erinnert sein Stil ein bisschen an Hendrik M. Broder oder Matthias Matussek. Lotter ist der Polarisierer der Wirtschaftspresse. Leserpost gibt es reichlich.
„Harmoniesucht geht mir total auf den Keks“, sagt Lotter. Er steht im Hamburger Regen. Ein Zwei-Zentner-Mann mit zerzaustem Wikinger-Haar, Siebentagebaart und Harry-Potter-Brille. Im Gegensatz zu vielen Spöttern hat Lotter einen weichen Kern – und erstaunlich viel Stil.
Er läuft durch keine Tür, ohne sie anderen aufzuhalten, er beantwortet jeden Leserbrief ausführlich und spielt für befreundete Familien schon mal den Nikolaus. „Im Grunde hat er fast eine romantische Art“, sagt Lotters Freund Thomas Vašek, der bis 2009 Chefredakteur beim P.M. Magazin war. Das Warmherzige sei kein Widerspruch zum scharfzüngigen Intellekt, zumindest nicht für Österreicher. „Lotter hat das, was man in Wien als Schmäh bezeichnet.“
Geboren wurde Wolf Lotter am 4. August 1962 in Mürzzuschlag in der Steiermark. Sein Vater arbeitete bei der Bahn und auch für den Sohn war dort eine Karriere vorgesehen. „Ich komme aus einem Beamtenhaushalt“, sagt Lotter. „Da spielte Sicherheit eine große Rolle.“
Schon der Teenager begehrt gegen dieses Sicherheitsdenken auf. Mit 16 Jahren geht Lotter in Wien bei einem Buchhändler in die Lehre. Auf dem zweiten Bildungsweg studiert er Kulturelles Management, Geschichte und Kommunikationswissenschaften. Keine Fächer für große Karrieren. Er schreibt literarische Texte, wofür ihm der Staat ein kleines Schriftsteller-Stipendium genehmigt. „Ich konnte Ministerialrat Dr. Mayer überzeugen, dass ich an einem großen Roman arbeite“, sagt Lotter und lächelt. „In Wahrheit habe ich fast keinen Text beendet. Und was fertig wurde, war richtiger Scheiß.“
Er nennt es das große Glück seiner Generation, dass man ihre Jugendsünden nicht bei Google finden könne. Dann setzt er zu einem kleinen Vortrag über das Vergessen an – und darüber, dass das ewige Archivieren vergangener Patzer nur zu einem führe: Unverbindlichkeit. „Wenn alle Angst haben, dass sie in zwanzig Jahren ihre Dummheiten von heute vorgehalten bekommen, sagt niemand mehr etwas Mutiges“, grantelt Lotter.
Vor ihm dampfen Bratkartoffeln neben einem Roastbeef mit Remoulade. Mittagspause in einem schummrigen Bistro am alten Hamburger Fischmarkt. Lotter isst gern und kocht leidenschaftlich. Am Liebsten deftig und mit Freunden. „Sein Wiener Schnitzel“, sagt die ehemalige Grünen-Politikerin Margareta Wolf, „ist das beste, das ich jemals gegessen habe.“ Spätabends, wenn Lotter satt und allein ist, zupft er manchmal seine E-Gitarre.
Mitte der achtziger Jahre beginnt Lotter, journalistisch zu arbeiten. Er schreibt für verschiedene Wiener Magazine, beschäftigt sich mit neuen Technologien und damit, wie sie die Arbeitswelt verändern. Er schraubt einen Computer zusammen und surft durchs Fidonet. 1992 gehört Lotter zur Gründungsredaktion der österreichischen Illustrierten News. Nach einem Jahr wechselt er zum Magazin Profil, wo er investigative Reportagen abliefert. Lotter spürt dem SED-Vermögen nach und besucht die Scientology-Zentrale in Los Angeles. Mit seinem Freund Vašek deckt er Waffenschiebereien auf.
„Eines Tages wurde uns ein Fax zugespielt“, erinnert sich Vašek. „Dort stand, dass eine österreichische Firma illegal Mörsergranaten nach Afrika liefert. Wir wussten weder, ob die Geschichte stimmt, noch welche Firma dahinter stecken könnte.“ Auf Verdacht hin besuchen die Reporter ein Unternehmen, das infrage kommen könnte. Sie bluffen und haben Erfolg. „Der Geschäftsführer war geständig“, wundert sich Vašek noch heute.
Später interviewen beide eine Sonderkommission, die Kriminelle aus Ex-Jugoslawien verfolgt. Die Ermittler wissen nicht viel und fragen die beiden Journalisten, ob sie nicht Hintermänner kennen. Lotter nennt aus Jux den Namen des serbischen Präsidenten Slobodan Milošević. „Und dann fragt der eine Polizist tatsächlich, wie man den buchstabiert“, erinnert sich Lotter. Es sei ein typisch österreichischer Beamter gewesen. Humorlos und nicht besonders klug.
Der überzeugte Freiberufler hält nicht viel von Privilegien wie Unkündbarkeit oder Beamtenpension. „Dass in Deutschland das ,unselbständige Angestelltenverhältnis‘ als Krönung der Karriere gilt, ist doch pervers“, sagt Lotter. Allein der Begriff sei verstörend.
Manchmal klingt er, als habe er zu viele FDP-Broschüren gelesen. Man kann Lotter leicht für einen Neo-Liberalen halten. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. „Er strebt nach linken Idealen: weniger Armut, Freiheit, fairer Lohn“, sagt Focus-Redakteur Michael Miersch, der Lotter Ende 2001 im „Salon der liberalen Skeptiker“ kennenlernte – eine Debattenrunde auf einem Berliner Ausflugsdampfer. „Aber Lotter bezweifelt, dass die linken Besitzstandswahrer fähig sind, diese Ziele zu erreichen.“ Er sehe in der Marktwirtschaft den richtigen Weg.
In seinen Texten verteidigt Lotter den Kapitalismus und schreibt vom Wandel der Industriegesellschaft in eine Wirtschaft der Kreativen. Das kommt bei Brand-Eins-Lesern gut an – und auch beim Mittelstand.
Es ist schon dunkel in Hamburg, als Lotter zur Handelskammer der Hansestadt eilt, wo er gleich einen Vortrag halten soll. Vorm Haupteingang empfängt ihn seine Frau Katharina, die erst einmal einige Hundehaare von Lotters Sakko zupft. Spuren des gestrigen Haustierkaufs. Im großen Saal warten 70 beschlipste Zuhörer darauf, was der Essayist zum Thema „Wenn die Könner kommen“ zu sagen hat.
„Früher hielt ich solche Vorträge immer am Anfang einer Veranstaltung, damit sie anschließend zerpflückt werden konnten“, erzählt Lotter ins Mikrofon und blinzelt durch seine Brille. „Dass ich heute den Schlusspunkt setze, scheint mir ein Grund zur Hoffnung.“ Er sagt, dass Gleichheit niemals gerecht sei und dass man Könner fördern müsse. Er spricht von Siegern im Sport und der deutschen Eigenart, Niederlagen umzudeuten. „Erklären Sie mal einem Chinesen, was ein ,zweiter Sieger ist.“
Dann geißelt er den Klüngel unter den deutschen Eliten, verkneift sich aber, was er noch beim Verlassen seiner Redaktion gesagt hatte: Leitende Angestellte seien oft „eine Spezialperversion, ausgestattet mit Privilegien plus hoher Abfindung“. Das wäre für die Hamburger Kaufleute vielleicht doch ein bisschen viel Polemik gewesen.
Nach dem Vortrag sagen einige Zuhörer, dass Sie nur wegen Lotter gekommen sind. Trotzdem kauft kaum einer sein Buch. Vielleicht passt der Titel nicht so recht zu den protestantischen Hanseaten. „Verschwendung“ heißt das Werk. Lotter rechnet darin mit allen Geizhälsen, Neidern und Kostendrückern ab. Er feiert stattdessen die spendablen Gönner. „Verschwendung ist gut – sie ist produktiv und sie ist erfinderisch“, schreibt Lotter. „Nur durch Verschwendung floriert die Wirtschaft und gedeiht die Kultur.“
Das mag für manchen Wirtschaftswissenschaftler so eindeutig nicht sein, essayistisch ist es trotzdem ein großer Wurf gegen die Geiz-ist-Geil-Mentalität in Lotters Wahlheimat. Vor reichlich zehn Jahren hat er seinen Hauptwohnsitz nach Deutschland verlegt, um die Entwicklung von Brand Eins zu begleiten. Freundin Margareta Wolf hat ihn mal gefragt, ob er eines Tages Gabriele Fischer als Chefredakteur ablösen wolle. Daraufhin soll Lotter erwidert haben: „Nur über meine Leiche.“ Sein Status als freier Autor bedeutet ihm mehr, als wohlklingende und ziemlich aufreibende Posten.
Lotter investiert seine Zeit in Texte. Für die Aufmacher in Brand Eins recherchiert er zwei bis drei Wochen, liest Bücher, redet mit Wissenschaftlern und schreibt vier Tage, wofür er sich absolute Ruhe erbittet. „Ich versuche es einigermaßen organisiert anzugehen“, sagt er, aber man ahnt, dass er manchmal bis tief in die Nacht sitzt. „Schreiben ist eigentlich nie schön“, murmelt Lotter. „Schön ist es erst, wenn der Text fertig ist.“
Das Thema für sein nächstes Essay ist noch offen. Für die Dezember-Ausgabe hatte Lotter frei. „Mein Mann braucht ja auch mal Urlaub“, sagt Katharina Lotter, selbst freie Journalistin. Sie seien zuletzt viel mit der Einrichtung ihres Hauses in Eimke beschäftigt gewesen. Demnächst wird im Garten ein Fahnenmast gesetzt, wo dann eine UNO-Flagge wehen soll. Ein Hauch von Welt in der Provinz.
Das Paar hat das Grundstück für 15 Jahre gemietet – mit der Möglichkeit, nach vier Jahren zu kündigen. In Lotters Maßstäben ist das eine Ewigkeit. „Wenn er es wirklich nicht mehr aushalten sollte“, sagt die Ehefrau, „dann würde er sich im Zweifel freikaufen.“ Aber noch sieht es so aus, als dauere die Begeisterung für das neue Heim diesmal länger als zehn Monate. Schließlich ist es ja so: Wer nie irgendwo ankommt, ist auch nicht frei.