Was ist Wahrheit?

Hat Jörg Kachelmann seine Ex-Freundin vergewaltigt? Das Mannheimer Landgericht setzt immer neue Verhandlungstage an. Die vier prominentesten Journalistinnen beim Prozess haben ihr Urteil schon gefällt.

journalist 03/2011

Man kann nur schätzen, wie oft Gisela Friedrichsen in den vergangenen Monaten schon durch die Sicherheitsschleuse am Landgericht Mannheim gelaufen ist. Fünfzig mal? Vermutlich war es noch öfter. Doch die Wachleute tasten die 65-jährige Spiegel-Gerichtsreporterin auch heute wieder penibel nach Waffen ab. Friedrichsen blickt indigniert ins Leere. Hier muss jeder durch. Vor Gericht sind alle gleich.

Es ist Februar und Jörg Kachelmann hätte zum Wetter wohl gesagt, dass die Aussichten trübe sind. Ob das auch für seine Zukunft gilt, soll der heutige Verhandlungstag zeigen. Der Rechtsmediziner Rainer Mattern wird über die Verletzungen von Kachelmanns Ex-Geliebter referieren. Hat der Moderator sie vergewaltigt? Oder hat sie sich ihre Wunden selbst zugefügt?

Die ersten drei Reihen in Saal 1 sind für Journalisten reserviert. Der Raum wirkt kühl, die grauen Plastikschalensitze könnten aus einem Fußballstadion stammen. Außer Friedrichsen sitzen hier die stellvertretende Bunte-Chefredakteurin Tanja May und Zeit-Gerichtsreporterin Sabine Rückert. Auch für Alice Schwarzer, die für die Bild-Zeitung schreibt, ist ein Platz reserviert. Er bleibt heute leer, wie so oft. Schwarzer betreibt Prozessberichterstattung offenbar per Ferndiagnose.

Die vier Frauen sind die prominentesten Journalistinnen im Saal und werden auch von Kollegen nach ihrer Einschätzung gefragt. Natürlich sagt keine laut, dass sie sich über Kachelmann bereits ein Urteil gebildet hat. Schuldig oder unschuldig? Die Entscheidung liegt beim Gericht. Das sehen Friedrichsen und Rückert so. Das sagen auch Schwarzer und May. Trotzdem hat jede längst für sich abgewogen. Die einen prangern ihn an, die anderen bedauern ihn fast.

„Ich kenne keinen Angeklagten, der so einen Prozess unbeschadet überstanden hat – auch dann nicht, wenn er freigesprochen wurde“, sagt Spiegel-Reporterin Friedrichsen. „Ich fühle mich wie in einer Doku-Soap und ahne, dass zuletzt jemand verurteilt werden könnte, obwohl es nicht genug Beweise gibt“, kritisiert Zeit-Journalistin Rückert.

Beide bemängeln die Methoden der 5. Großen Strafkammer und hätten gegen einen Freispruch wohl keine Einwände. Rückert fragt sich, warum das Gericht weitere Ex-Geliebte Kachelmanns als Zeuginnen hören will. „Zur fraglichen Nacht können sie nichts beitragen“, sagt die Zeit-Reporterin und lehnt sich in ihrem Zuschauersitz zurück. Ihre Kritik verpackt sie in Ironie: „Das kann dauern, bis wir mit dem ganzen Harem durch sind.“ Längst wisse das Publikum über Kachelmann mehr als von den eigenen Geschwistern.

Der durchleuchtete und interpretierte Moderator sitzt im schwarzen Anzug auf der Anklagebank und schweigt. Manchmal tippt Kachelmann etwas auf seinem Tablet-Computer, in die Zuschauerreihen blickt er kaum. Man fragt sich, was in seinem Kopf vorgeht, als der Rechtsmediziner Rainer Mattern beschreibt, wie er an seiner eigenen Ehefrau versucht habe, eine Vergewaltigung nachzuvollziehen. Der Gutachter beschmierte seine Knie mit blauer Farbe, dann drückte er die Schenkel seiner Gattin auseinander. Die zurückgebliebenen Farbspuren ähnelten optisch den Hämatomen des mutmaßlichen Opfers. Mattern beauftragte zudem eine Mitarbeiterin, sich selbst zu verletzen. Sie sollte ein Messer so fest an ihren Hals drücken, bis sie es nicht mehr aushält.

Der Erkenntnisgewinn war gering. Matterns Resümee: „Ich kann weder nachweisen, dass der Angeklagte der Nebenklägerin die Verletzungen beigebracht hat, noch kann ich mit wissenschaftlichen Methoden nachweisen, dass sie sich die Verletzungen selbst beigebracht hat.“

Doch in der Verhandlungspause wird dieses Unentschieden umgedeutet. „Das sieht nicht gut aus für Kachelmann“, sagt eine Journalistin. Und Bunte-Reporterin Tanja May bestätigt die Interpretation mit einem Nicken. Anders als Rückert und Friedrichsen hat sie den Prozess nie infrage gestellt, findet die Arbeit des Gerichts „extrem gründlich“.

Die Bunte berichtete ausführlich über die zahlreichen Affären des Moderators und bezahlte seine Gespielinnen für die Interviews. Eine Catharina erhielt laut Zeit 8.500 Euro, eine Anja 5.000 Euro. „Er hatte Sex mit mir, obwohl ich Nein gesagt und geweint habe“, ließ sich Letztere in der Bunten zitieren. In der polizeilichen Vernehmung hatte sie dieses Detail noch verschwiegen. „Ist er ein Frauenhasser“, überschrieb May einen ihrer Artikel. Es klang wie eine rhetorische Frage.

Schon vor einem Jahr hatte May Kachelmanns mutmaßlichem Opfer ein eindeutiges Fax geschickt: „Wie ich Ihnen schon mehrfach geschrieben habe, habe ich Ihnen von Anfang an geglaubt, was Herr Kachelmann Ihnen angetan hat.“ Das NDR-Medienmagazin Zapp machte das Fax im Herbst öffentlich. Spontan in Mannheim will May dazu nichts sagen. Auf die Frage, warum sie der Frau glaube, antwortet sie auch per E-Mail ausweichend: „Als Journalistin versuche ich so ausgewogen wie möglich zu berichten und beide Seiten zu Wort kommen zu lassen. Bunte hat sich von Anfang an schriftlich und wiederholt bemüht, Herrn Kachelmann zu einem Interview oder zu Statements zu gewinnen – die Anfragen wurden nicht einmal beantwortet.“

Das überrascht nicht. Ihre Redaktion hat den Moderator derart bloßgestellt, dass selbst nach einem Freispruch eine Weiterbeschäftigung beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk undenkbar scheint. Der Ruf ist vorerst ruiniert. Anfang des Jahres wollten sich zwei Schweizer Radiosender von Kachelmann wieder das Wetter vorhersagen lassen. Er sei ja bislang nicht schuldig gesprochen worden. Einer der Sender gab das Projekt aber schnell wieder auf. Als Grund nannte er „diverse Reaktionen aus der Hörerschaft“.

Auch für Bild-Reporterin Alice Schwarzer schien die Unschuldsvermutung anfangs nicht zu gelten. Zwar bezeichnete sie sich selbst als „eine der wenigen Objektiven“, schrieb aber mehrfach über Kachelmanns Opfer und vergaß das „mutmaßliche“ davor. Wie May hält die Feministin den Wettermoderator für einen notorischen Lügner und Frauenbetrüger. Juristisch sind das zwar keine Kategorien, um die es in Mannheim geht, aber es ist der Tenor ihrer Texte.

Sabine Rückert hat diese Kampagne des Boulevards am deutlichsten kritisiert. „Schuldig auf Verdacht“ lautete die Überschrift ihres ersten Zeit-Dossiers, das sich wie ein Plädoyer der Verteidigung liest. „Die Beweise zerrinnen den Staatsanwälten geradezu unter den Händen“, schrieb Rückert. „Aber der Schaden, den Kachelmanns Ansehen erlitten hat, ist total.“

Rückert verfügt über exzellente Quellen. Sie kennt Gutachten, zitiert aus Vernehmungsprotokollen und weiß immer schon bevor das Gericht seine Pressemitteilungen veröffentlicht hat, worum es in den nächsten Verhandlungstagen gehen soll. „Ich kenne Kachelmanns Rechtsanwalt seit Jahren“, sagt sie. „Aber ich bekomme keine Information, die nicht andere Kollegen auch bekommen.“

Das bezweifeln einige Beobachter. Rückerts Drähte zur Verteidigung dürften auf jeden Fall besser sein als von Schwarzer oder May. Mit der Staatsanwaltschaft spricht sie dagegen nicht. „Ich halte die Staatsanwaltschaft für einen Teil des Problems“, sagt die Reporterin.

Als Kachelmann noch in Untersuchungshaft saß, wandte sich sein damaliger Rechtsanwalt Reinhard Birkenstock an Rückert, bot Unterlagen an und bat um Rat. Die Journalistin antwortete mit einer E-Mail und empfahl Birkenstock eine offensivere Strategie. „Wir können nur zusammenkommen, wenn Ihre Verteidigung in dem angedeuteten Sinne professionalisiert wird“, formulierte Rückert. „Dazu sollten Sie sich überlegen, einen Kollegen einzubinden, der Verfahren dieser Art auch gewachsen ist. Wenn Sie mein Buch gelesen haben, wissen Sie, wen ich in einem solchen Falle wählen würde.“

Ihr Buch heißt „Unrecht im Namen des Volkes“ und entstand in Zusammenarbeit mit dem Hamburger Strafverteidiger Johann Schwenn. Als Birkenstock die Empfehlung Rückerts ausschlug, kritisierte die Journalistin ihn. Am 29. November beauftragte Kachelmann tatsächlich einen neuen Verteidiger: Schwenn.

„Ich dachte, ich falle um, als ich das gehört habe“, sagt Rückert.
Sie sitzt zur Mittagspause in einem Restaurant unweit des Gerichts bei einem Salat. „Alle mussten ja glauben, dass ich für den Wechsel verantwortlich bin.“
In Wirklichkeit habe sich ein ehemaliger Mandant Schwenns direkt an
Kachelmann gewandt, ein Karosseriebauer, der über fünf Jahre unschuldig wegen Vergewaltigung im Gefängnis gesessen hatte und dank Schwenn wieder frei war. „Nach einem Gespräch mit diesem Mann hat Kachelmann seinen Anwalt gewechselt“, sagt Rückert.

Sie macht keinen Hehl daraus, dass sie die Beweislage gegen den
Wettermoderator mehr als dürftig findet. „Es steht Aussage gegen
Aussage, und es gibt keine belastenden Spuren. Der Staat muss ihm die
Tat aber nachweisen, um ihn zu verurteilen. Nur darum geht es hier.“
In ihrem ersten Dossier über den Prozess hat Rückert eine Bibel-Passage bemüht. Altes Testament, erstes Buch Mose: „Von der Vergeltungssucht der zurückgewiesenen Frau“. Man könnte auch eine andere Bibel-Stelle zitieren. Neues Testament, Pontius Pilatus: „Was ist Wahrheit?“ Die Gutachten stapeln sich, die Liste der Zeuginnen wird immer länger. Aber der Nebel lichtet sich kaum.

„Um die Wahrheit geht es hier doch schon längst nicht mehr“, sagt Gisela Friedrichsen. Die Spiegel-Reporterin erzählt von der offensiven PR der Staatsanwaltschaft, die Kachelmann schwer belaste, und kritisiert, dass die Öffentlichkeit beim Verfahren oft ausgeschlossen werde. „Wir erleben hier ein Beispiel dafür, wie die Justiz wieder zu einer geheimen Kammerjustiz wird“, klagt sie. Niemand könne sich ein umfassendes Bild machen, „weil Kachelmanns Damen zwar mit der Bunten reden, im Gericht aber hinter verschlossenen Türen befragt werden.“

Sie kommt zu fast jeder öffentlichen Verhandlung nach Mannheim, was angesichts ihres Terminkalenders erstaunlich ist. In Stuttgart wird gerade über die frühere RAF-Terroristin Verena Becker verhandelt, in München über den mutmaßlichen NS-Verbrecher John Demjanjuk und in Landshut geht es um den Tod eines vor neun Jahren verschwunden Bauern. Friedrichsen sitzt überall mit im Saal.

„Wenn Sie die deutsche Justiz für ein großes Nachrichtenmagazin beobachten, können Sie nicht nur zu einem Prozess im Quartal gehen“, sagt die 65-Jährige. Aus jeder Silbe spricht bedingungslose Selbstdisziplin. Bis zum Abend will sie noch einen Artikel für Spiegel Online schreiben. Titel: „Über den Mangel an eindeutigen Erkenntnissen.“

Obwohl Friedrichsen ständig hustet und ihr Hals kratzt, trägt sie Rock statt Hose. Für ein Foto im Freien verzichtet sie auf ihren Mantel und präsentiert sich lieber im dunklen Pullover. Sie ist die Eiserne Lady der deutschen Gerichtsberichterstattung. Ihre präzisen Statements werden von Fernseh- und Radiojournalisten geschätzt. Von allen Gerichtsreporterinnen spricht sie am häufigsten in Mikrofone. Doch sie hat auch Feinde.

Zuletzt teilte Alice Schwarzer gegen sie aus. In einer Talksendung von Anne Will behauptete Schwarzer, Friedrichsen sehne Kachelmanns Freispruch herbei. Sie habe den Angeklagten einen Luftikus und notorischen Fremdgänger genannt. „Das wird dem Ernst der Sache nicht gerecht“, echauffierte sich die Feministin. Als sich Friedrichsen in der Sendung gegen die Fehlinterpretation ihres Artikels wehrte, nannte Schwarzer sie einen „dreisten Vogel“.

Die Fernseh-Fehde war der vorläufige Höhepunkt einer langen Feindschaft. Vor zwei Jahren hatte Schwarzer für ihre Zeitschrift Emma ein ganzes Dossier über Friedrichsen verfasst, in dem sie der altgedienten Gerichtsreporterin generelle Sympathien mit Tätern vorwarf. „Das Opfer ist bei Friedrichsen immer schuld. Tot oder lebendig“, giftete sie. Die subjektiven Reportagen der Spiegel-Journalistin würden auch die Richter beeinflussen.

Schwarzer argumentierte aus Sicht einer Frauenrechtlerin, die sich wünscht, dass jedes Gewaltopfer zu seinem Recht kommt. Friedrichsen ist aber keine Aktivistin des Opferschutzes. Sie schreibt aus der Sicht einer Rechtsexpertin. Ihre Haltung: Im Zweifel für den Angeklagten. Das ist nicht zu beanstanden, sondern rechtsstaatliches Prinzip. Die beiden werden keine gemeinsame Basis mehr finden. Die Spiegel-Reporterin ist genervt von den Angriffen, die sie nicht mehr kommentieren will. „Ich mag diese Zicken-Kriege nicht.“

Nach der Pause müssen alle erneut durch die Sicherheitsschleuse. Ein Journalist soll seine Geldbörse leeren, weil die Wachleute sie verdächtig finden. Bei einem Fotografen vermuten die Uniformierten ein Handy, finden bei der Durchsuchung aber nur Schlüssel. Im November wurde vor dem Gericht ein dpa-Korrespondent festgenommen, der auf der Straße mit seinem Aufnahmegerät hantierte. Ein Richter hatte vermutet, der Reporter höre vorm Fenster die Beratungen der Kammer ab.

Nach fünf Monaten ohne klare Erkenntnisse liegen die Nerven blank. Friedrichsen erzählt, dass im Foyer ein Zuschauer einen Journalisten mit den Worten beschimpft habe, er gehöre auch zu dieser „Alice-Schwarzer-Fraktion“ und solle sich schämen.

Das Interesse der Medien ist inzwischen gesunken. Drängelten sich anfangs die Reporter noch, bleiben heute viele Sitze leer. Nur als Alice Schwarzer Mitte Februar als Zeugin geladen war, reisten noch einmal überdurchschnittlich viele Journalisten an. Dabei war ihre Befragung nur ein Nebenkriegsschauplatz. Dass sie von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen würde, galt als sehr wahrscheinlich.

Aber Schwarzers Auftritt und der Vorwurf der Verteidigung, sie sei an einer Verschwörung gegen Kachelmann beteiligt, bot endlich wieder Stoff für knallige Geschichten. Die Presse will eindeutige Schlagzeilen, das Gericht will mehr Zeit. Es hat inzwischen bis in den Mai Verhandlungstage angesetzt. Normalerweise dauert ein Vergewaltigungsprozess nur wenige Wochen.

„Ich wünsche niemanden, dass er in die Fänge der Strafjustiz gerät“,
resümiert Rückert, die mit Schwenn zwei Justizirrtümer aufgeklärt und darüber ihr Buch geschrieben hat. „Was die Strafjustiz angeht, habe ich meinen Optimismus verloren.“ Seit zehn Jahren arbeitet sie als Gerichtsreporterin für die Zeit. Vor elf Jahren erhielt sie den Emma-Journalistenpreis. Heute würde Emma-Herausgeberin Schwarzer die Ehrung wohl jemand anderem verleihen. Die gegenseitige Wertschätzung hat im Kachelmann-Prozess stark gelitten.

Es ist erstaunlich, dass im Ringen um die Deutung des Verfahrens noch niemand den wahren Namen des mutmaßlichen Opfers veröffentlicht hat. In der Illustrierten Stern heißt sie Frau May – wie die Reporterin der Bunten. Das mag Zufall sein. So wie es Zufall sein mag, dass Schwarzer ausgerechnet an jenem Tag im Gerichtssaal saß, als Rechtsanwalt Schwenn beantragte, sie als Zeugin zu vernehmen. Doch je länger das Verfahren dauert, desto mehr kommt es einem wie absurdes Theater vor. Ausgang offen, Fortsetzung möglich.

Über ralfgeissler

Journalist

01. März 2011 von ralfgeissler
Kategorien: Justiz, Medien | 1 Kommentar

1 Kommentar

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert


* Copy This Password *

* Type Or Paste Password Here *