Der Schauspieler

Jenke von Wilmsdorff kam vom Theater und macht nun Reportagen. Er schlüpft für RTL in fremde Rollen und beschreibt, wie es ihm damit ergeht. Früher wollte er vor allem unterhalten, jetzt zeigt er auch Erschütterndes aus Krisengebieten. Ein Mann zwischen Bühne und Katastrophe.

journalist, September 2012

Und dann verschwindet er hinter einer dichten Wolke aus Rauch. Jenke von Wilmsdorff hockt im Schneidersitz mit rot-gelber Körperbemalung zwischen Bettel-Mönchen in Nepal. Um den Göttern näher zu kommen, haben sich die Mönche noch vorm Frühstück einen Joint gedreht. Von Wilmsdorff hüstelt, als ihm das Haschisch unter die Nase gehalten wird. „Oh nein, danke“, sagt er, „dann fange ich an zu fliegen.“ Und während die anderen im Geiste selig entschweben, versucht der Fernsehreporter dem Qualm zu entgehen. Er hat sich das Rauchen gerade erst abgewöhnt.

Es passiert nicht oft, dass von Wilmsdorff zu etwas Nein sagt. Für seine unzähligen RTL-Reportagen macht er fast alles. Der 46-Jährige schuftete als Rikscha-Fahrer in Kalkutta, diente als Hotelbutler in Bangkok, probierte sich als Schlagersänger, Kammerjäger und Hochseilartist aus. Er ist eine Art Günther Wallraff für die Spaßgesellschaft. Seit rund zehn Jahren schlüpft er als Berufetester in fremde Rollen – aber weniger, um zu enthüllen, sondern um zu unterhalten. Aus seinen wildesten Jobs hat er jetzt ein Buch gemacht: „Brot kann schimmeln, was kannst Du?“

In einer Geschichte beschreibt er, wie er als Maskottchen „Funny Fuchs“ in einem Freizeitpark jobbte. Er erwähnt zwar, dass der Stundenlohn nur 6 Euro betragen hat, doch die unverschämt niedrige Bezahlung ist schnell vergessen, weil von Wilmsdorff die Schadenfreude seiner Leser weckt, indem er beschreibt, wie er auf der Wasserbahn einen nassen Kunstpelz bekam. An anderer Stelle erfährt man, dass Dicke fürs Rikscha-Fahren bei ihm extra zahlen mussten und dass Hotel-Butler alles über Prominente wissen, aber nicht einmal beim Zeitungen-Bügeln darüber sprechen.

Die Frage ist: Was lernt man aus solchen Reportagen? Soll man überhaupt etwas lernen oder sich nur amüsieren? Von Stern-Gründer Henri Nannen ist das Zitat überliefert: „Ich finde, wenn man Journalist ist, dann will man doch die Welt ein bisschen verständlicher, ein bisschen weniger gemein, ein bisschen ehrlicher, ein bisschen offener machen.“ Will das auch jemand, der lustige Bücher schreibt und seine Reportagen spätabends bei RTL zeigt?

„Ich mache ja seit einigen Jahren nicht mehr nur humorvolle Themen, sondern bearbeite auch sehr erschütternde Geschichten“, sagt von Wilmsdorff. Er sitzt bei einer Rhabarbersaftschorle in einem Kölner Südstadt-Café. Ein durchtrainierter Mitvierziger mit grauem Dreitagebart und braungebrannter Haut. Gerade sei er als Reporter in Thailand und Malaysia unterwegs gewesen. „Ich habe dort vier Tage lang mit See-Nomaden gelebt“, erzählt von Wilmsdorff. „Das sind die letzten Menschen ohne Geld und ohne Papiere, die auf ihren Booten übers Meer ziehen und nur an die Küsten kommen, weil sie vom Tauschgeschäft leben.“ Außerdem habe er sich eine Lepra-Kolonie angesehen. „Dort leben von Lepra Geheilte vollkommen isoliert, da die Gesellschaft sie verstoßen hat.“

Aus beiden Recherchen sollen anspruchsvolle Filme werden, keine zum Schmunzeln, sondern zum Nachdenken. Im Internet kann man sich bereits gesendete Reportagen von ihm ansehen. Sie zeigen zum Teil unfassbare Geschichten. Von Wilmsdorff drehte in einer Region in Mauretanien, in der Übergewicht ein Zeichen für Wohlstand ist und junge Mädchen zwangsernährt werden, damit sie sich besser verheiraten lassen. Er erzählt, wie Kinder festgebunden und mit dem Fünffachen ihres Tagesbedarfs vollgestopft werden. „Wenn sie sich erbrechen, müssen sie es noch einmal essen“, heißt es in der Reportage. Damit die fette Kamelmilch besser ansetzt, bekommen die Mädchen Tiermastmittel eingeflößt.

Für einen anderen Film flog von Wilmsdorff nach Uganda in eine Region, in der vermeintliche Zauberer aus Aberglauben Kinder töten oder verstümmeln. „Es war eine Reise in die Abgründe der Menschheit“, sagt er. Er befragte einen knapp vierjährigen Jungen, dessen Penis abgeschnitten wurde. Von Wilmsdorff erzählt, dass die Täter das Geschlechtsteil vermutlich gegessen haben, in der Hoffnung, das helfe ihrem eigenen Kinderwunsch.

Machen solche Geschichten die Welt ein bisschen weniger gemein, ein bisschen ehrlicher, ein bisschen offener? Oder bedient von Wilmsdorff damit nur den Voyeurismus seiner Zuschauer? „Diese Gefahr besteht im Fernsehen natürlich immer“, sagt er. „Aber trotzdem kann man viel erreichen, wenn man entsprechend erzählt.“ Er habe zum Beispiel Strahlenopfer in Kasachstan gefilmt, deren Gesichter durch illegale Atomtests völlig entstellt waren. „Daraufhin haben Zuschauer viel Geld gespendet und wir konnten einigen Betroffenen Operationen bezahlen.“

Ein Reporter, zwei Extreme. Ein Mann, der heute in einem plüschigen Fuchskostüm durch einen Freizeitpark tollt und morgen mit rauer Stimme aus einem Kannibalen-Dorf berichtet. Wie passt das zusammen?

Geboren wurde Jenke von Wilmsdorff 1965 in Bonn als Sohn eines Bundeswehr-Oberst und einer Bundeswehr-Angestellten. Nach dem Abitur wollte er Schauspieler werden. Er reiste in die USA, träumte von einer Karriere in Hollywood, doch weil er keine Arbeitserlaubnis hatte, wiesen ihn die US-Behörden aus. Schließlich ließ er sich an der Schauspielschule in Düsseldorf ausbilden und begann am Theater im bayerischen Dinkelsbühl. „Die Bude war so klein, dass man als Darsteller seine Kostüme selber nähen und auch die Bühne mit aufbauen musste“, sagt er. „Es war anstrengend und lehrreich zugleich.“

Rund 14 Jahre tingelte er als Darsteller durch die Republik, trat in mehr als 50 Stücken auf: Kleist, Shakespeare, Schiller. Eines Tages lag er im oberfränkischen Hof in einer Rolle minutenlang regungslos auf der Bühne. „Da ging mir die Frage durch den Kopf: Gehst Du heute Abend zum Griechen oder zum Italiener? Und mir wurde klar, ich muss eine Schauspielpause machen.“ Mit Mitte 30 kehrte er dem Theater den Rücken.

Schauspieler ist er trotzdem geblieben, bis heute. Früher spielte er fiktive Stoffe, jetzt das pralle Leben. Im Juni tauschte er für RTL mit einer alleinerziehenden Mutter die Rolle und kümmerte sich eine Woche lang vor laufender Kamera um ihre Kinder und den Hund. Kommenden März bekommt von Wilmsdorff eine eigene Sendung bei RTL. Das Jenke-Experiment soll sie heißen. RTL will zunächst vier Folgen am späten Montagabend ausstrahlen. „In der ersten Folge zeige ich, wie es ist und wie es sich anfühlt, alt zu werden“, sagt er. „Ich werde für einige Tage ins Altenheim ziehen und ein Experiment starten, in dem ich selbst ‚altere‘.“

Er wolle einen Schritt näher an die Menschen herankommen als andere. Nach dem Reaktorunfall im japanischen Fukushima fuhr er als einer der ersten Journalisten ins Katastrophengebiet. Die Kontrollen an der Sperrzone passierte er auf dem Anhänger eines Rinderzüchters, versteckt zwischen Säcken voller Viehfutter. Ein Reporter kennt keine Grenzen, ein Schauspieler nicht einmal eigene.

Meistens begleitet ihn der Kameramann Jan Kreutz. „In Situationen, in denen es brenzlig wird, hilft uns sein Humor“, sagt Kreutz. Sie arbeiten seit mehr als zehn Jahren zusammen, haben schon bei der Sendung Versteckte -Kamera gejobbt: von Wilmsdorff war in den 90er Jahren Lockvogel und Kreutz Kameraassistent. „Er ist sehr verlässlich und charakterlich sehr stark“, sagt Kreutz über seinen Kumpel. Ihre gefährlichste Reise sei ein Besuch im mexikanischen Ciuadad Juarez gewesen. Drogenkartelle haben die Stadt unter sich aufgeteilt, in der alle zwei Stunden eine Mensch ermordet wird.

Außer als Lockvogel ist von Wilmsdorff auch in Fernsehserien und Werbespots aufgetreten. Er moderierte eine Zeitlang von Mitternacht bis 5 Uhr früh das Nachtcafé auf Radio NRW und später eine Single-Show für einen Hörfunksender in Aachen. „Ich habe früher oft nachts gearbeitet, um mich tagsüber um meinen Sohn kümmern zu können“, sagt er. Dass er angesichts seiner extremen Jobs überhaupt Familie hat, erstaunt. „Vor einer Reise erzähle ich meinen Angehörigen nicht alles“, sagt er. „Ich will ihnen nicht unnötig Angst machen.“

Die Sonne schimmert durch die Fenster des Kölner Cafés, aus der Ferne quietschen Straßenbahnen. Man hätte von Wilmsdorff gern einen Tag bei seiner Arbeit begleitet, ihn an einen Ort getroffen, der mit seinem Job zu tun hat. Seine PR-Agentur fand das eine gute Idee und empfahl dann dieses Café. Hier habe er sein Buch geschrieben. Doch bei manch richtigem Abenteuer möchte man vielleicht auch nicht dabei sein. Im März 2011 fuhr er als weltweit erster Journalist auf einem Flüchtlingsschiff übers Mittelmeer mit. Sechs Tage lang hatte er im Norden Tunesiens nach einem Menschenschlepper gesucht, der bereit war, ihn und Jan Kreutz mit an Bord zu nehmen. 48 Stunden dauerte die Überfahrt nach Lampedusa mit fast 350 Afrikanern an Bord. „Meine größte Angst war, dass uns die Schlepper auf hoher See ins Wasser werfen, weil sie fürchteten, dass wir sie ins Gefängnis bringen“, sagt von Wilmsdorff. Viele der Flüchtlinge hatten noch nie das Meer gesehen, Dutzende erbrachen sich auf dem Schiff, fast alle bangten um ihr Leben.

Die Wellen schlugen hoch. Nach der Ankunft in Lampedusa warfen deutsche Medien von Wilmsdorff vor, ein „Bündnis mit den Schleusern“ eingegangen zu sein, einen „Pakt mit der Kriminalität“. Er hatte für die illegale Überfahrt nach eigenen Angaben für sich und Kreutz 2.000 Euro bezahlt. Der damalige Vorsitzende des Netzwerks Recherche, Thomas Leif, nannte die Aktion „hochproblematisch“. „Wenn man sich in die Hände von Kriminellen begibt, ist eine freie Berichterstattung de facto ausgeschlossen, weil in jedem Fall die Schleuser die Spielregeln der Berichterstattung bestimmen.“

Tatsächlich durften von Wilmsdorff und sein Begleiter während der Reise die Gesichter der Crew nicht filmen. Dennoch glaubt er, dass die Kritik überzogen war. „Auf Lampedusa haben viele Journalisten tagelang gewartet, dass ein neues Flüchtlingsschiff ankommt. Die waren hungrig nach Geschichten. Und dann landete das völlig überfüllte Boot mit uns Reportern an Bord.“ Er nimmt das Wort Neid nicht in den Mund, doch es wird auch so klar, dass er vermutet, manche Kollegen hätten ihm die Geschichte nicht gegönnt. Ende August wurde die Reportage für einen Emmy nominiert.

Doch wie weit darf man gehen? Gibt es wirklich kein Limit? „Ich würde für eine Story keine Verbrechen begehen“, sagt von Wilmsdorf, „und niemals Menschenrechte verletzen.“ Beim Ansehen der Flüchtlingsreportage hat man dennoch das Gefühl: Hier spielt einer den Hasardeur.

Eine seiner schrägsten Rollen ist von Wilmsdorff bis heute nicht losgeworden. 2006 hatte er die Idee, das Schlagergeschäft zu beleuchten. Er legte sich den Künstlernamen Rico Diamond zu, zog eine Motorradfahrer–Jacke an und trat in Ski-Hütten mit einem eigenen Song auf. „Wenn ich heute in der Jacke durch die Musikabteilung im Saturn laufe, werde ich immer noch darauf angesprochen“, sagt von Wilmsdorff. Er holt sein Smartphone aus der Tasche und klickt sich durch die Seiten von Amazon, wo Schlagerfans das Lied bestens bewertet haben. -Einer schreibt: „Wer also Wolgang Petry, Jürgen Drews und Matthias Reim mag, wird Rico Diamond anbeten.“ Von Wilmsdorff wischt auf dem Display herum und dann hört man seine Stimme aus dem Telefonlautsprecher rocken: „Es war ein Sommer der Liebe, ein Sommer des Glücks. Die Kraft der Gefühle hat uns fast erdrückt.“

Die Story findet sich auch in seinem Buch wieder, das er hier in dem Kölner Café geschrieben hat. „Dort vorn sitzt manchmal Frank Schätzing“, sagt von Wilmsdorff. „Ich dachte mir, dann kann das Karma des Ladens nicht schlecht sein.“ Er muss jetzt los, um am Nachmittag seine Reportage über die Lepra-Kolonien in Südostasien zu schneiden. Es ist sein erster Arbeitstag bei RTL nach dem Sommerurlaub. Wo erholt sich jemand, der in jeder Rolle jede Region der Welt bereist hat? „An einem etwas unspektakuläreren Ort“, antwortet von Wilmsdorf. „Wir waren auf Mallorca.“

 

Über ralfgeissler

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01. September 2012 von ralfgeissler
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